Von Robotern in der Pflege sind wir sehr weit entfernt

„Von Robotern in der Pflege sind wir sehr weit entfernt“, dies sagte Justus Kunz, Professor für Organisationspsychologie und Change Management an der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW. Am nationalen Spitex-Tag hatte der Professor Mitarbeitende von Aargauer Spitex-Organisationen auf die Reise in die Zukunft mitgenommen. Sein Vortrag diente auch dazu, Ängste abzubauen. Wo liegen also die Chancen von Technologie und insbesondere von künstlicher Intelligenz für den Spitex-Betrieb? Im Interview geht Justus Kunz auf die verschiedenen Facetten ein.


Wie soll KI den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen mildern?

«Mildern» – da haben Sie aus meiner Sicht genau den richtigen Begriff gewählt. Denn tatsächlich ist es das, was im besten Fall eintreten kann. KI hat weder das Potenzial, den Fachkräftemangel im Pflegewesen zu lösen, noch wäre das aus meiner Sicht wünschenswert. Pflege ist – und wird hoffentlich auch zukünftig bleiben – ein Beruf von Menschen, die für Menschen da sind. Das kann ein Algorithmus nicht leisten.

Ich sehe KI als immer realistischere Chance, jene Menschen, die sich für den Pflegeberuf entschieden haben, im Kern ihrer Tätigkeit – der Arbeit mit den Gepflegten – zu entlasten. Ich erlebe immer wieder starke Zustimmung, wenn ich die These aufstelle, dass sich kaum jemand, der sich für den Pflegeberuf entschieden hat, mehr Freude daran hat, Dokumentationen zu schreiben, als tatsächlich Menschen zu helfen oder ein offenes Ohr für ihre Sorgen zu haben. Genau hier kann KI als unterstützendes Tool
ansetzen.

Durch eine deutliche Effizienzsteigerung und damit Entlastung bei Dokumentationsprozessen entsteht mehr Zeit für die menschliche Seite des Berufs. Gleichzeitig können KI-Assistenzsysteme – sowohl auf Seiten der Pflegenden als auch der Gepflegten – Daten liefern, die frühzeitig auf eine Verschlechterung der gesundheitlichen Situation hinweisen oder die Pflegenden in Entscheidungssituationen unterstützen. Das können Sensordaten sein oder auch bildgebende Verfahren in der Wunddokumentation sowie Hinweise auf unerwünschte Wechselwirkungen von Medikamenten.

All dies kann dazu beitragen, Gesundheitsprognosen zu stabilisieren und ungeplante Einsätze zu reduzieren. In Kombination mit der Entlastung bei administrativen Aufgaben kann dies Effizienzsteigerungen erzeugen, die den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen tatsächlich mildern. Zudem kann diese Entlastung das Berufsbild attraktiver machen – insbesondere auch für Personen mit nicht-deutscher Muttersprache, weil sie stärker an ihrer pflegerischen Kompetenz gemessen werden und
weniger an ihren Sprach- oder Rechtschreibkenntnissen.

Wo sehen Sie heute konkret KI in der Spitex?

Das ergibt sich ein Stück weit aus meiner vorherigen Antwort. Ich sehe KI insbesondere in der Effizienzsteigerung administrativer Tätigkeiten und in der Erkennung gesundheitlicher Veränderungen über Sensor- und Bilddaten – genau dort liegen ihre Stärken. Denn heutige KI-Systeme sind nicht in allen Aufgabenfeldern gleich leistungsfähig. In manchen Bereichen ist die KI im Gegenteil noch weit davon entfernt, den Menschen mit seinen Kompetenzen und Erfahrungen zu ersetzen – insbesondere, wenn es um physische Tätigkeiten oder um das Spenden menschlicher Nähe geht.

Wiederkehrende, klar regelbasierte Aufgaben mit standardisierten Inputdaten und definiertem Ausgabeformat – das sind die Tätigkeitsfelder, in denen KI tatsächlich sehr viel effizienter sein kann als der Mensch.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die prädiktive Datenanalyse – ein zentrales Stärkenfeld der KI. Im Spitex-Kontext lässt sich dies beispielsweise bei Planungs- oder Dispositionstätigkeiten nutzen: etwa in der dynamischen Routen- und Einsatzplanung oder bei der KI-gestützten Schicht- und Ferienplanung. Hier kann die KI Datensätze vergangener Einsätze mit Live-Verkehrs- und Wetterdaten kombinieren und präzise Vorhersagen darüber treffen, welche Reihenfolge von Hausbesuchen, welche Fahrtrouten oder welche Personaldichte an bestimmten Tagen am effizientesten sind. Natürlich werden auch diese Vorhersagen nie hundertprozentig präzise sein – am Ende des Tages sprechen wir über einen hochdynamischen Beruf. Aber der Grad der Vorhersagbarkeit lässt sich deutlich erhöhen.

«Speech to …» ist seit Siri oder Alexa nichts Neues mehr. Sie sehen hier aber Potenzial für die Spitex-Arbeit. Weshalb?

Tatsächlich ist «Speech to…» keine fundamental neue Funktionalität. Aber ich würde nicht erwarten, dass eine Pflegedokumentation, die man Siri oder Alexa diktiert, brauchbar wäre. Dafür braucht es spezialisierte Large Language Models, die auf medizinische Fachbegriffe und Dokumentationsstandards trainiert wurden. Wir dürfen nicht vergessen: KI hat keinerlei menschliche Eigenschaften – auch wenn sie
uns diese simuliert. Hinter den Kulissen laufen tausende Wahrscheinlichkeitsabschätzungen ab, welche Wörter in welcher Reihenfolge und Tonalität Sinn ergeben dürften. Siri und Alexa sind auf ganz andere Kontexte trainiert.

Neu ist jedoch die Dynamik spezialisierter, kleinerer Modelle, die heute besser verfügbar und deutlich leistungsfähiger sind als früher. Zudem erlauben solche spezialisierten Lösungen die Einhaltung der hohen rechtlichen Anforderungen, die beim Umgang mit Patientendaten gelten. Auch aus diesem Grund sind Siri oder Alexa hier keine geeignete Wahl.


Professor Justus Kunz: Studien würden zeigen, dass je nach Einsatz von KI bis zu 10 Minuten pro Patient gespart werden können. So bliebe mehr Zeit für die Betreuung.

Wie werden die Mitarbeitenden der Spitex idealerweise an den KI-Alltag herangeführt?

In einem Wort: «niedrigschwellig». In einem zweiten: «partizipativ». Je nach Vorerfahrung kann diese Technologie unterschiedlich komplex und damit auch abschreckend wirken – besonders für jene, die sich nicht als Digital Natives verstehen.

Wir haben festgestellt, dass viele Lernprinzipien, die in der Vergangenheit bei der Einführung neuer digitaler Systeme galten, bei KI nicht mehr greifen. Oft bringen die Mitarbeitenden bereits viel Erfahrung mit – oder sie sind es sogar, die den Einsatz von KI fordern und mit der Langsamkeit organisatorischer Entscheidungen unzufrieden sind.

Wenn wir dies mit unserem KI Performance Radar messen und benchmarken, nennen wir diese Mitarbeitenden-Gruppe «die Ausgebremsten». Sie ist in der Regel die grösste Gruppe. Es sind Mitarbeitende, die durch Erfahrungen im privaten oder beruflichen Umfeld längst überzeugt sind und KI bereits nutzen – häufig weit intensiver, als Führungspersonen es wahrnehmen.

In vielen Organisationen wird KI nämlich rund dreimal häufiger von Mitarbeitenden genutzt, als Vorgesetzte annehmen. Diese engagierten, technologieaffinen Personen sind oft die besten Multiplikatoren, um Kolleginnen und Kollegen mitzuziehen. Erfolgreiche Einführung gelingt hier vor allem über niedrigschwelliges Ausprobieren im realen Arbeitskontext – weniger über theoretische Schulungen, die meist weniger wirksam sind.

Immer heisst es, die älteren Menschen seien nicht so digital unterwegs. Wie erleben Sie das?

In aller Kürze – schwierig zu sagen. Wahrscheinlich ist es genau diese Annahme, die dazu führt, dass wir es hier mit einer in der Forschung zu digitalen Phänomenen unteruntersuchten Bevölkerungsgruppe zu tun haben. Die Forschung hat hier einen blinden Fleck – und entsprechend fehlt es an belastbaren Daten, um diese Frage abschliessend zu beantworten.

Aus meiner Sicht wird häufig unterschätzt, dass die Generation, die wir heute als «ältere Menschen» bezeichnen, die Digitalisierung im Berufsleben längst miterlebt hat – vom Internet über E-Mail bis hin zu Smartphones. Wenn man bedenkt, wie viele dieser Menschen heute selbstverständlich digitale Geräte nutzen oder in sozialen Netzwerken aktiv sind, sollte man ihre Digitalkompetenz nicht unterschätzen.

Hinzu kommt, dass digitale Tools immer benutzerfreundlicher werden. Das notwendige Kompetenzniveau, um sie sinnvoll zu bedienen, sinkt stetig – was auch im Sinne der Unternehmen ist, deren Geschäftsmodell auf maximaler Nutzerfreundlichkeit und Alltagstauglichkeit basiert.

Der Datenschutz liegt bei vielen Spitex-Organisationen im Argen. Wird KI die Situation noch verschärfen?

«Verschärfen» wäre nicht das richtige Wort – vielmehr wird das Thema Datenschutz zunehmend in den Fokus rücken, je stärker die Digitalisierung auch im Pflegekontext Einzug hält. Patientendaten sind zu Recht ein besonders geschütztes Gut mit hohen rechtlichen Anforderungen an Speicherung und Weitergabe. KI ist – wie die digitale Patientendokumentation – ein Bereich, in dem diese Fragen besonders sorgfältig bedacht werden müssen.

Wenn aber durch die Wahl der richtigen digitalen Tools ein verlässlicher rechtlicher Rahmen geschaffen ist, kann KI im Gegenteil sogar entlastend wirken: weil digitale Lösungen die Einhaltung von Datenschutzregeln systematisch erzwingen. In analogen Prozessen entstehen Datenschutzprobleme meist durch individuelle Nachlässigkeit – diese Risiken lassen sich in digitalisierten, standardisierten Abläufen reduzieren. Ich spreche daher von einem Initialaufwand, der sich langfristig durch höhere Sicherheit und Standardisierung auszahlt.

Zum Schluss: Wie nutzen Sie KI persönlich?

Täglich – beruflich wie privat. Meist spielerisch und explorativ, um auf dem neuesten Stand der Technik zu bleiben. Dabei spreche ich insbesondere von generativer KI.

Jede Person mit einem modernen Smartphone oder einem Auto, das in den letzten fünf Jahren gebaut wurde, nutzt bereits KI – oft unbemerkt. Für mich bleibt es spannend, an vielen Stellen vom Potenzial dieser Technologien überrascht zu werden: etwa bei wissenschaftlichen Literaturrecherchen – oder privat, wenn eine KI beispielsweise den bakteriellen Infekt meiner Tochter richtig diagnostiziert.

Gleichzeitig werde ich täglich mit den Grenzen der KI konfrontiert – und das empfinde ich als beruhigend. Der Mensch ist in vielen Bereichen immer noch die Referenz, die der Algorithmus erst noch erreichen muss. In dynamischen, unvorhersehbaren Umfeldern sind wir der Technik weiterhin überlegen.


Prof. Dr. Justus Kunz promovierte an der Universität St. Gallen und sammelte anschliessend als Berater, unter anderem bei Drees & Sommer Schweiz, umfangreiche praktische Erfahrung im Change-Management und in der Arbeitsplatztransformation. Seine Karriere ist geprägt von einer Verbindung akademischer Forschung und praktischer Anwendung, mit einem Fokus auf Themen wie New Work und nachhaltige Managementstrategien. Heute ist er Professor für Organisationspsychologie und Change an der Hochschule für Angewandte Psychologie der FHNW. Dort lehrt er, leitet praxisorientierte Forschungsprojekte und bringt seine Expertise als Referent und Experte bei Konferenzen ein.