Pflegende Angehörige sind eine Herzensangelegenheit

Die Spitex Region Konolfingen geht bei der Anstellung von pflegenden Angehörigen neue Wege. Sie hat zusammen mit der Renovium Bildung AG eine neue Firma gegründet mit dem Ziel, alle Einnahmen aus diesem Bereich für die Betroffenen einzusetzen. «Pflegende Angehörige können nicht ohne Weiteres eine Ausbildung besuchen. Es braucht Angebote für diese speziellen Bedürfnisse», sagt Marius Muff, Geschäftsleiter der Spitex Region Konolfingen. «Unsere Mitarbeitenden staunen immer wieder, welche Pflegequalität auch ohne Pflegefachausbildung erbracht wird.» Für die Spitex Region Konolfingen sind pflegende Angehörige eine wichtige Personalressource. «Sie leisten rund zwölf Prozent unseres Pflegevolumens. Ohne sie ginge es nicht», so Marius Muff.
Seit wie vielen Jahren beschäftigt die Spitex Region Konolfingen pflegende Angehörige?
Wir haben damit vor sechs Jahren, also im Jahr 2018, angefangen. Damals beschäftigten wir ausschliesslich Personen, die auch eine Pflegeausbildung haben. Heute arbeiten 179 Mitarbeitenden bei uns. Elf davon sind pflegende Angehörige mit Pflegeausbildung. Bei der neu gegründeten IaAP GmbH sind im Moment 12 Personen angestellt. Deren Pflegeausbildung bauen wir in kleinen und sehr individuell Schritten auf, so wie es das entsprechende Konzept vorsieht.

Ein grosser Teil der Ausbildung findet bei den pflegenden Angehörigen zu Hause im Einzelcoaching statt.
Marius Muff, Geschäftsleiter Spitex Region Konolfingen
Was heisst das?
Unsere Erfahrung zeigt, dass pflegende Angehörige nicht ohne Weiteres eine Ausbildung besuchen können. Könnten zwar schon – doch sie sind zeitlich oft so eingespannt, dass dies sehr schwierig wird. Die offizielle Haltung von Spitex Schweiz setzt solche Menschen zusätzlich unter Druck: Erwartet wird, dass sie innerhalb eines Jahres die entsprechende Ausbildung machen müssen. Für viele ist das nicht machbar; sie können beispielsweise ihr Umfeld nicht für ein dreiwöchiges Praktikum verlassen. Das bedeutet, wir müssten sie nach einem Jahr wieder entlassen. Oder an eine andere Organisation übergeben, die weit weniger für pflegende Angehörige macht als wir. Beides wollen wir nicht.
Was meinen Sie mit „weniger für pflegende Angehörige macht“?
Lassen Sie mich etwas ausholen: Pflegende Angehörige sind uns einerseits eine Herzensangelegenheit. Wir schätzen ihre Kompetenz, die sie mitbringen. Das ist nicht in jedem Fall pflegerisches Fachwissen, sondern vielmehr Praxiswissen vor Ort. Der Zugang zu solchem Wissen ist sehr wichtig für Pflege- und Betreuungssituationen. Anderseits sind pflegende Angehörige für uns eine wichtige Personalressource. Im Moment erbringen sie zwölf Prozent aller Leistungen der Spitex Region Konolfingen. Hätten wir keine pflegenden Angehörigen in den eigenen Reihen, müssten wir die Leistungen durch professionelle Pflegefachpersonen erbringen lassen. Doch in unserer Region gibt es diese Fachpersonen schlicht nicht. Zurück zur Frage: Die IaAP Gmbh bildet die pflegenden Angehörigen nach den vorhandenen Möglichkeiten aus. Dabei findet ein grosser Teil der Ausbildung bei ihnen zu Hause im Einzelcoaching statt. Dies vor allem, weil pflegende Angehörige zeitlich oft sehr in den Alltag eingespannt sind, teilweise rund um die Uhr. Wir machen viel für die pflegenden Angehörigen, davon profitieren vor allem Kundinnen und Kunden.
Wie stellen Sie die Qualität bei pflegenden Angehörigen sicher?
Die Beurteilung vor Ort erfolgt immer durch eine tertiäre, spezialisierte Mitarbeiterin. Sie kann beurteilen, was schon gut geht, wo Support nötig ist und wo sie allenfalls ihre Gesundheit selbst gefährdet, beispielsweise bei Transfers. Werden pflegende Angehörige krank, übernehmen sofort und nahtlos Mitarbeitende der Spitex Region Konolfingen die Einsätze. Es sind immer eine Pflegeplanung und Verlaufsberichte vorhanden. Fallen pflegende Angehörige über einen längeren Zeitraum aus, übernimmt eine Partnerfirma die Betreuung. So können die Betroffenen zu Hause bleiben, und es gibt keine unnötige Spitaleinweisungen.
Was sind die grössten Herausforderungen bei der Beschäftigung von pflegenden Angehörigen?
Es gibt viele unterschiedliche Firmen und Angebote, die für unterschiedliche Leistungen alle den gleichen Tarif erhalten. Leider. Das ist ein Fehlanreiz: Je weniger eine Firma bietet, desto mehr Gewinn erzielt sie. Ich wünsche mir, dass es für pflegende Angehörige abgestufte Tarife gibt. Das würde die Situation verbessern.
Wie erleben Sie die Zusammenarbeit der pflegenden Angehörigen mit den anderen Mitarbeitenden und umgekehrt?
Unsere Mitarbeitenden empfinden die Zusammenarbeit mit den pflegenden Angehörigen als sinnvoll und staunen nicht selten, auf welchem Qualitätslevel pflegende Angehörige pflegen. Auch ohne adäquate Pflegeausbildung. Die pflegenden Angehörigen sind sehr zufrieden, was die jüngste Umfrage zeigt. Die Rückmeldungen an ihren spezifischen Teamsitzungen sind oft berührend, wie sie ihre Situation meistern.
Warum sind pflegende Angehörige für Ihre Organisation wichtig?
Sie entlasten unser Pflegefachpersonal. Wenn man den Studien über den Fachkräftemangel in den nächsten fünf Jahren glaubt, hoffen wir, dass pflegende Angehörige auch weiterhin ihre Angehörigen selbst pflegen, mit oder ohne professionelle Unterstützung. Stellen wir uns vor, dass sie zehn Prozent ihrer Pflegeleistungen an eine Spitex-Organisation abgeben, kämen auf die Spitex-Organisationen etwa acht Millionen Pflegestunden zum heutigen Volumen dazu. Es bräuchte rund 7`000 zusätzliche 100 %-Stellen, um diese Leistung zu erbringen. Das ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Was empfehlen Sie anderen Spitex-Organisationen, die sich ebenfalls mit dem Gedanken tragen, pflegende Angehörige anzustellen?
Jede Organisation sollte sich die Frage stellen, ob sie selbst ein umfassendes, professionelles Angebot entwickeln oder das Thema pflegende Angehörige kommerziellen, gewinn-orientierten Firmen mit einem Minimalangebot überlassen wollen.
Marius Muff
ist seit 2017 Geschäftsleiter der Spitex Region Konolfingen. Die Spitex Region Konolfingen ist eine mittelgrosse, öffentliche Non-Profit-Spitex-Organisation, die rund 179 Mitarbeitende beschäftigt. Die Organisation versorgt Kundinnen und Kunden in der Region Konolfingen mit 18 Gemeinden, die zirka 28’000 Einwohnende umfassen.
Vor seinem Engagement bei der Spitex Region Konolfingen war Marius Muff 19 Jahre bei der Spitex Bern als Betriebsmanager, davor 13 Jahre in psychiatrischen Kliniken tätig.
Neue Studie
Eine neue Studie der Universität Zürich zeigt, dass das Wohlbefinden von Menschen umso mehr leidet, je länger sie Angehörige pflegen – unabhängig vom Pflegekontext. Diese Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit politischer Diskussionen, um die Belastung durch informelle Pflege zu verringern.