Interview
«Wer fit ist, zieht nicht in eine Alterswohnung»: St.Galler Altersforscherin über graue Haare, Roboter und Respekt

Die St.Galler Soziologin Sabina Misoch leitet das grösste Altersprojekt der Schweiz. Im Interview spricht die Forscherin über bikende Senioren, Roboter in Pflegeheimen und das eigene Älterwerden.

Katharina Brenner und Regula Weik
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«Wir können 70-Jährige von früher nicht mit denen von heute vergleichen», sagt Altersforscherin Sabina Misoch.

«Wir können 70-Jährige von früher nicht mit denen von heute vergleichen», sagt Altersforscherin Sabina Misoch.

Hanspeter Schiess

Wie alt fühlen Sie sich?

Sabina Misoch: So ungefähr wie 40.

Und wie alt sind Sie?

49. Wie die meisten Erwachsenen fühle ich mich jünger, als ich tatsächlich bin.

Ab wann ist man alt?

Soziologisch beginnt das Alter mit dem Übergang vom Erwerbsleben in die Nacherwerbsphase. Die Altersstereotype, die eine Gesellschaft hat, spielen bei dieser Frage aber immer auch eine Rolle.

Welche haben wir?

Etwa: Altsein heisst, ich gehe gebeugt und habe graue Haare. Heute biken ­Seniorinnen und Senioren durch Nepal, machen Pilateskurse, die Haare sind gefärbt. Meine Grossmutter war mit 65 wirklich alt. Sie war müde, hatte ihr ­Leben lang körperlich hart gearbeitet. Wir können 70-Jährige von heute nicht mit denen von früher vergleichen.

Ältere Menschen haben sich also verändert, die Gesellschaft hat ihr Bild aber nicht angepasst?

Langsam ändert es sich. Gemeinden überarbeiten ihre Alterspolitik und damit ihre Altersleitbilder wie aktuell zum Beispiel die Stadt St.Gallen. Und auch in den Köpfen der Einzelnen werden die Altersbilder modernisiert.

Machen Sie sich Gedanken übers Altern?

Dafür ist es noch ein bisschen früh. Aber natürlich möchte ich die Zeit nach meiner Pensionierung sinnvoll nutzen. Wenn ich auf 60 zugehe, sollte ich spätestens anfangen, mir Gedanken zu machen, wie das gelingen kann. Vor allem Männer fallen nach der Pensionierung häufig in ein Loch, weil sie sich stark über ihren Beruf definieren.

Was raten Sie Berufstätigen um die 60, damit das nicht passiert?

Sich rechtzeitig überlegen, was einem wichtig ist. Will ich noch etwas geben? Dann kann ich mich ehrenamtlich engagieren. Will ich mich weiter beruflich einbringen? Dann kann ich meine Expertise zur Verfügung stellen. Will ich alle Länder der Welt gesehen haben? Dann fange ich an zu reisen.

Irgendwann kommt der Punkt, an dem das alles nicht mehr geht und ich Hilfe brauche.

Auch darauf muss man sich vorbereiten. Doch das machen die wenigsten. Kaum jemand zieht in eine altersgerechte Wohnung, so lange er fit ist. Oft passiert dann der Klassiker: Es ist glatt, eine ältere Person stürzt und kann danach nicht mehr in ihrer Wohnung leben. Sie muss dann angeschlagen und unter Druck eine Lösung suchen. Das ist nie ideal. Ich empfehle deshalb, frühzeitig zu zügeln.

Dieser Schritt fällt vielen extrem schwer.

So ist es. Ich sehe es bei meinen Eltern. Sie sind Mitte 80 und wären besser aufgehoben, wenn sie nicht mehr daheim leben würden. Sie sehen das aber ganz anders.

Wie gehen Sie als Tochter damit um?

Ich muss respektieren, dass sie erwachsene Menschen sind und selber entscheiden.

Braucht es mehr ambulante Angebote für ältere Menschen?

Es gibt Bestrebungen, das Ambulante zu stärken. Das spart nicht nur viel Geld, sondern entspricht auch dem Wunsch der meisten Senioren und Seniorinnen.

Hat das die Politik schon realisiert?

Ich wünschte, es ginge schneller. 2050 wird knapp ein Drittel der Bevölkerung über 65 sein. Bis dahin brauchen wir gute Lösungen. Einiges tut sich bereits. So gibt es zum Beispiel immer mehr Seniorenräte. Ich bin das jüngste Mitglied im Seniorenrat des Kantons St.Gallen. Wir besprechen Themen aus dem Alltag: abgesenkte Bordsteine am Bahnhof oder Bänke, auf denen ältere Personen auf ihrer Einkaufstour ausruhen können. Die Seniorinnen und Senioren wollen politisch mitgestalten.

In den letzten Lebensjahren sind die meisten Menschen auf Pflege angewiesen. Dabei herrscht bereits heute ein Pflegenotstand.

Deshalb setzen wir in unserer Forschung stark auf Technologien. Wir wollen Pflegerinnen und Pfleger nicht ersetzen. Roboter können sie aber bei Tätigkeiten entlasten, die nicht direkt mit Menschen zu tun haben.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Roboter können Unterlagen transportieren, Medikamente oder auch die Lesebrille bringen.

Sind ältere Personen offen dafür?

Wenn sie den Nutzen sehen, akzeptieren sie viele technologische Lösungen, auch Roboter. Länger daheim bleiben können – das ist das Zauberwort.

Die Seniorengruppe, mit der sie forschen, hatte sich gewünscht, mit einem Roboter Gymnastik zu machen. War das ein Erfolg?

Nur bedingt. Die Senioren und Seniorinnen haben den Roboter Nao zwar positiv beurteilt. Sie waren aber recht bald gelangweilt, weil es immer die gleichen Übungen waren. Nächstes Jahr testen wir den Roboter in einem Heim mit kognitiv eingeschränkten Personen. Was bei Hochbetagten sehr gut ankommt, ist die Roboterrobbe Paro. Sie sieht aus wie ein Kuscheltier, kann Augen und Schwanz bewegen. Man kann sie streicheln und ihr alles erzählen. Sie hört zu und urteilt nicht.

Welche technischen Hilfsmittel sind sinnvoll, wenn jemand möglichst lange selbstständig daheim leben will?

Sensoren für verschiedenste Anwendungen wie zum Beispiel, dass das Licht automatisch angeht, Rauch- und Wassermelder oder auch Sturzsensoren mit Wärmelichtkameras. Es ist vieles denkbar. So haben wir einen Sensor getestet, der ein Signal an Nachbarn, Angehörige oder die Spitex sendet, wenn die Kühlschranktür während 24 Stunden nicht geöffnet wird. Er kam extrem gut an, weil er kaum auffällt.

Das Design spielt also eine Rolle.

Auf jeden Fall. Nur weil Menschen älter sind, haben sie ihren Sinn für Ästhetik nicht verloren.

Was hat Sie in Ihrem Altersprojekt bisher am meisten überrascht?

Die Akzeptanz von Robotern. Unsere Studie mit 150 Personen zeigte zudem, dass Roboter gewünscht werden, die wie Menschen aussehen. Die bisherige wissenschaftliche Literatur sagte genau das Gegenteil aus. Vielleicht findet da bei uns gerade ein Wandel statt, in Asien sind diese menschenähnlichen Modelle schon länger sehr beliebt. Überraschend waren für mich auch die Begegnungen mit Hochaltrigen auf der Insel der 100-Jährigen in Japan.

Haben diese Ihren Blick aufs Alter verändert?

Mein Blick ist differenzierter geworden. In Japan werden ältere Menschen hochrespektiert. Ich war in einer Sitzung mit einem Firmenchef. Sein Vorgänger, der das Unternehmen vor zehn Jahren verlassen hatte, nahm auch teil und bestimmte die Diskussion – ganz natürlich aufgrund seines Alters. Bei uns wäre so etwas unvorstellbar.

Fehlt bei uns der Respekt für ältere Menschen?

Wir sollten ihren Erfahrungsschatz anerkennen. Auf der Insel der 100-Jährigen schaut die Gemeinschaft sehr nach den alten Leuten und bindet sie ein. Diese Impulse können wir mitnehmen.

Ist die Vorstellung, in einem Heim zu leben, ein Graus für Sie?

Wenn es da einen Roboter gibt, den wir getestet haben, wäre das eine tolle Vorstellung. (Lacht.) Ich habe viele Heime gesehen und sehr liebevolles Pflegepersonal erlebt. In vielen Fällen steigt die Lebensqualität der Menschen im Heim. Vereinsamung zu Hause ist ein riesiges Problem.

Erwarten Sie von Ihren Kindern, dass sie Sie später einmal pflegen?

Nein. Das habe ich ihnen auch schon gesagt. Sie sollen ihr Leben leben.

Sabina Misoch – eine junge Altersforscherin

Sabina Misoch, 49, hat erst zur Jugend geforscht, bevor sie aufs Alter umsattelte. Als Mutter 10-jähriger Zwillinge hat sie aber weiterhin mit Jugendlichen zu tun. Die deutsch-schweizerische Doppelbürgerin lebt mit ihren Kindern und ihrem Mann in der Stadt St. Gallen und schreibt derzeit ihre Habilitation. Bevor die Soziologin 2014 nach St.Gallen kam, war sie Juniorprofessorin in Mannheim und forschte an der Uni Luzern. Ihr Kompetenzzentrum an der Fachhochschule St.Gallen wurde jüngst zum Institut für Altersforschung aufgewertet. Misoch ist gerne in der Natur – auf dem Bodensee, beim Wandern und Reiten. (kbr)

Nationales Altersprojekt

Die Fachhochschule St.Gallen führt unter der Leitung von Sabina Misoch das grösste Altersprojekt der Schweiz mit dem sperrigen Titel «Age-nt. Alter(n) in der Gesellschaft: Nationales Innovationsnetzwerk». Nebst weiteren Fachhochschulen sind auch die Universitäten Bern, Genf und Zürich daran beteiligt. In St. Gallen wird das Leben mit Demenz untersucht und welche technischen Hilfsmittel selbstständiges Leben im Alter unterstützen können. Das Gesamtbudget beträgt acht Millionen Franken, vier Millionen steuert der Bund bei. Im Januar 2020 bricht das letzte von insgesamt vier Projektjahren an. (kbr)