Psychisch krank: Melis Sakru pflegte ihre Mutter jahrelang

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Psychische Erkrankungen«Ohne pflegende Angehörige würde das System zusammenkrachen»

Melis Sakru (32) musste früh erwachsen werden. Weil ihre Mutter an Bipolarität erkrankte, wurde sie mit zwölf Jahren zum «young carer» und musste neben dem Gymi auch noch Haushalt und Familie stemmen.

Pflegende Angehörige: Darum gehts

  • Melis Sakru hat neben der Schule ihre psychisch kranke Mutter gepflegt und sich um den Haushalt und den Rest der Familie gekümmert.

  • Es sei eine schwere Zeit gewesen – auch weil die Rolle von pflegenden Angehörigen oft unterschätzt wird.

  • Die Angehörigen stellt das vor grosse Herausforderungen.

  • Laut neusten Zahlen der Organisation «Stand by you» stehen in der Schweiz aktuell 2,1 Millionen Angehörige und Vertrauenspersonen einer psychisch erkrankten Person bei.

«Es begann mit depressiven, manchmal auch manischen Phasen», erinnert sich Melis Sakru an die Zeit, als sie erstmals annahm, dass ihre Mutter krank sein könnte. Zwölf Jahre war sie da alt. Gesprochen wurde darüber in der Familie nicht wirklich. Auch dann nicht, als die Anzeichen für eine psychische Erkrankung der Mutter immer deutlicher wurden. So habe sie ihren beiden Töchtern immer wieder Dinge unterstellt, die diese aber gar nicht getan haben.

Erst Zwangseinweisung beendet Schweigen

Heute weiss Sakru: Ihre Mutter entwickelte damals erst eine Bipolarität, dann paranoide Wahnvorstellungen. «Das geschieht, wenn man nichts unternimmt.» Das alles wusste die Familie damals nicht. Denn eine Diagnose und Hilfe erhielt die Mutter erst, als Sakru 18 Jahre alt war: «Weil sie jemanden aus der Familie angegriffen hatte, kam die Polizei und meine Mutter wurde zwangseingewiesen.»

Professionelle Hilfe aus Angst abgelehnt

Zu diesem Zeitpunkt sei sie bereits komplett überfordert gewesen, erzählt Sakru. Weil ihr Vater selbständig und ihre jüngere Schwester zu jung gewesen sei, habe sie in den sechs Jahren zuvor peu à peu nicht nur die Aufgaben ihre Mutter, sondern auch die «körperliche und psychische Pflege» ihrer Mutter übernommen.

«Meine Mutter wollte keine professionelle Hilfe, sie hatte Angst, dass man ihr sonst die Kinder wegnimmt.»

Melis Sakru, Tochter einer psychisch kranken Mutter

All das neben dem Gymi. Hilfe von aussen gab es nicht. «Meine Mutter wollte keine professionelle Hilfe, sie hatte Angst, dass man ihr sonst die Kinder wegnimmt», so Sakru. Also habe sie die Zähne zusammengebissen. «Aber ich war wütend, dass ich in dieser unfairen Situation gelandet bin.» Mit 18 Jahren habe sie sich dann auf eigene Faust eine Gesprächstherapie organisiert. «Das hat mir gutgetan.»

Pflege der Mutter hat Tochter die Matura gekostet

Die Belastungen im Elternhaus kosteten Sakru die Matura. Zwar habe sie damals in der Schule um Hilfe gebeten, aber wirklich bekommen habe sie die nicht. Denn auch die Lehrpersonen seien mit der Situation überfordert gewesen: «Ich durfte nach dem Unterricht länger im Gebäude bleiben, um meine Ufzgi in Ruhe machen zu können», so Sakru. Mehr Unterstützung habe es nicht gegeben, weil auch die Lehrerinnen und Lehrer nicht gewusst hätten, was man in einer solchen Situation machen kann. Nur durch Umwege habe sie es später zunächst an die ZHdK und dann an die Uni Zürich geschafft.

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Pflegende Angehörige und trotzdem aussen vor

Durch die Zwangseinweisung der Mutter sei das Leben nicht wirklich einfacher geworden, so Sakru. «Obwohl ich die Care-Person meiner Mutter gewesen bin, bin ich nicht involviert worden.» Erst als sie 25 Jahre alt gewesen sei, habe sie erfahren, wie die Krankheit ihrer Mutter überhaupt heisst. «Ich wusste bis da nicht, welche Medikamente sie nehmen musste, wann sie diese nehmen musste und in welcher Dosis.»

«Obwohl ich die Care-Person meiner Mutter gewesen bin, bin ich nicht involviert worden.»

Meli Sakru hatte mit zusätzlichen Hürden zu kämpfen.

Auch habe man sie nicht darüber aufgeklärt, welche Anzeichen auf einen Rückfall hindeuten. So habe sie nicht gewusst, worauf das Verhalten der Mutter nach dem Aufenthalt in der Psychiatrie zurückzuführen war und erkannte so zu spät, dass sie die Medikamente abgesetzt hatte. Die Mutter musste dann ein zweites Mal eingewiesen werden. Keine einfache Situation für die Familie und besonders nicht für sie, so Sakru.

«Zu den Rückfällen kam es, weil ich nicht 24/7 für sie da war»

Die heute 32-Jährige wünscht sich, dass pflegende Angehörige sichtbarer werden und ihre Bedeutung erkannt wird: Es sei ja schön, dass es die Spitex ein-, zweimal am Tag vorbeischaue, «aber meine Mutter hat rund um die Uhr Betreuung gebraucht», so Sakru. Dafür habe sie sorgen müssen. Auch nachts, wenn sie am nächsten Tag zur Schule musste. Trotzdem habe sie auch mal Zeit für sich gebraucht. Die Freitagabende seien für sie und ihre Kolleginnen und Kollegen reserviert gewesen. Das habe aber Folgen gehabt: «Zu den Rückfällen kam es, weil ich nicht 24/7 für sie da war.»

«Meine Mutter hat rund um die Uhr Betreuung gebraucht.»

Melis Sakru musste aufgrund der Krankheit ihrer Mutter früh erwachsen werden.

«Es heisst immer, das Gesundheitssystem sei bereits am Anschlag, ohne pflegende Angehörige würde es ganz zusammenkrachen» (siehe Bildstrecke). Deshalb sollten die pflegenden Angehörigen von psychisch Kranken – insbesondere die «young carers» – nicht nur professionelle Unterstützung bekommen, sondern auch in die Behandlung und Betreuung mit einbezogen werden. «Denn Wissen entlastet.»

Nun pflegt die Grossmutter die Mutter

Nicht nur Sakru geht es heute wieder gut, sondern auch ihrer Mutter. Diese sei vor rund neun Jahren zurück in die Türkei gezogen. «Das war traurig, aber auch eine Erleichterung für mich.» Dort lebt sie zusammen mit Sakrus Grossmutter. «Die beiden betreuen sich nun gegenseitig.» Das funktioniere gut. Ihre Mutter habe ihre einstige Lebensqualität zurück.

Hast du oder hat jemand, den du kennst, Suizidgedanken? Oder hast du jemanden durch Suizid verloren?

Hier findest du Hilfe:

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858

Seelsorge.net, Angebot der reformierten und katholischen Kirchen

Muslimische Seelsorge, Tel. 043 205 21 29

Jüdische Fürsorge, info@vsjf.ch

Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen

Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen

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