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Kaffee mit Alessia Schrepfer«Wenn Pflegefachpersonen sich organisieren würden, hätten wir eine laute Stimme»

Seit Corona begegnet die Gesellschaft dem Pflegepersonal wahlweise mit Applaus oder Mitleid. Alessia Schrepfer kann mit beidem wenig anfangen. Was die gelernte Pflegefachfrau mit Masterabschluss in gerontologischer Pflege stattdessen will, sind gute Arbeitsbedingungen: «Dadurch würde der Fachkräftemangel entschärft, weil die Pflegefachpersonen seltener den Beruf wechseln würden. Und gleichzeitig stiege die Qualität, weil bei schlechten Bedingungen zuerst die Besten aussteigen.»

Was die 34-Jährige jedoch genauso ärgert wie die teils schlechten Bedingungen, ist, wenn nur gejammert wird und nicht gehandelt: «Wir Pflegefachpersonen sind eine grosse und wichtige Gruppe. Wenn wir uns organisieren würden, hätten wir eine laute Stimme.» Aber das geschehe viel zu wenig. Stattdessen hätten es sich einige «in der Selbstbemitleidung gemütlich eingerichtet».

«Der Pflegeberuf ist sehr streng, ich will das nicht abstreiten», sagt sie. Was viele unterschätzten, sei das permanente Grundrauschen. «Man kann sich nie abgrenzen, ständig will jemand irgendetwas von einem, ständig klingelt es irgendwo.» Hinzu komme die enorme Spannweite der Aufgaben: von einfachen Routinearbeiten wie dem Reinigen der Nachttischchen bis zu Entscheidungen, die Leben oder Tod bedeuten könnten: «Etwa, wenn ich allein anhand von Symptomen einschätzen muss, ob wir einen Arzt hinzuholen müssen oder nicht – oder gar die ärztliche Tätigkeit übernehmen, wenn kein Arzt Rufbereitschaft hat.»

Klagen will sie aber nicht, sondern «etwas Positives entgegensetzen»: «Ich bin eine, die immer an vorderster Front vorangeht.» Und so ist die Pflegefachfrau kurzerhand zur Unternehmerin geworden, zur erfolgreichsten Jungunternehmerin des laufenden Jahres gar. Im März hat sie den WomenAward als beste Jungunternehmerin des Swiss Economic Forum (SEF) gewonnen. Ein emotionaler Moment für Schrepfer, die sich zwar selbst für den Award beworben hat, aber «niemals damit gerechnet hätte, dass ich tatsächlich gewinne». Als an der Award Night ihr Name gefallen sei, habe sie es zuerst gar nicht realisiert. «Meine Kollegin, die mich begleitet hat, musste mir sagen: Hey, das bist du!»

Das Unternehmen, das Schrepfer mit ihrem Geschäftspartner gegründet hat, heisst WeNurse. Es ist eine Mischung aus Personalverleih und Unternehmensberatung. Knapp dreissig Pflegefachleute beschäftigt das Start-up bereits. Es sollen deutlich mehr werden: 400 in der gesamten Deutschschweiz sind das Ziel. Dies soll bereits Ende 2026 erreicht werden. «Aber das ist vielleicht etwas zu ambitioniert.» Bewerbungen hätten sie zwar genug, aber sie wollten nur die Besten anstellen.

«Qualität geht vor Quantität», sagt sie immer wieder. Das gilt sowohl für das eigene Personal als auch für die Aufträge, die angenommen werden. So bietet WeNurse keinen Notfallpool an. «Egal, wie gut unsere Leute sind, wenn sie von heute auf morgen nur für einen Tag irgendwo einspringen müssen, können auch sie keine gute Arbeit leisten, schon nur weil sie die Abläufe nicht kennen.» Man akzeptiere daher Einsätze in einem Spital, einer Klinik, einem Heim oder bei der Spitex erst ab einer Dauer von einem Monat.

Ein Start-up, das Personal in einem so gefragten Bereich wie der Pflege verleiht, hat ein Problem nicht: einen Mangel an Aufträgen. Das Geschäft läuft seit Beginn gut. Die angestellten Pflegefachpersonen verdienen laut Schrepfer marktübliche Löhne. Sie und ihr Geschäftspartner haben sich im ersten Jahr noch keinen Lohn ausgezahlt. Mittlerweile, im erst zweiten Jahr, können aber auch sie sich bereits einen Lohn ausrichten.

Das Besondere an WeNurse: Die Pflegefachleute sind nicht einfach nur angestellt, sondern selbst über Aktien am Unternehmen beteiligt. Strategische Entscheide werden in basisdemokratischen Abstimmungen gefällt. Auch die Lohnbänder wurden gemeinsam definiert. «So ein Modell wie unseres gibt es bisher noch nicht», sagt Schrepfer.

Vom Personalverleih will sich das Unternehmen weiter in Richtung Beratungsgesellschaft entwickeln. «Wir suchen Top Shots aus der Pflege, die den Beruf sonst vielleicht verlassen würden, und schulen sie in Wirtschaftsabläufen.» So würden sie zu idealen Beratern in der Prozessoptimierung für Spitäler oder Heime: «Im Gegensatz zu anderen Unternehmensberatern haben sie die Abläufe in der Gesundheitsbranche von der Pike auf gelernt.»

Den Hauptsitz hat WeNurse in Schönenberg an der Thur, im Thurgau, wo Schrepfer aufgewachsen ist. Und wohin sie demnächst zurückkehren wird, nach vielen Jahren in Zürich. «Mit einem lachenden und einem weinenden Auge.» Sie freut sich auf das Haus, das sie mit ihrem Mann kaufen konnte. Und sie freut sich auf Familie und Freunde im Thurgau. Aber Zürich werde ihr schon fehlen, sagt sie, trinkt ihren Kaffee im Collana am Sechseläutenplatz leer und muss dann los, arbeiten. Wobei es für sie nicht einfach Arbeit sei, sondern auch eine Mission: für bessere Bedingungen in der Pflege – und nicht nur Mitleid oder Applaus.