Musikspitex in Basel
Wenn die Menschen nicht zur Musik können, kommt die Musik zu ihnen

Die Musikspitex spielt Musik für Menschen, die hochbetagt oder bettlägerig sind. Zu Besuch bei einem Hauskonzert der Kulturinitiative, die aus der Coronapandemie heraus entstand.

Gregor Szyndler
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Kultur auf Augenhöhe: Die Musikerin Margreet spielt für den 6-jährigen Maximilian.

Kultur auf Augenhöhe: Die Musikerin Margreet spielt für den 6-jährigen Maximilian.

Bild: Daniel Bossart

Maximilian hat eine dunkle Mähne, trägt eine Brille und liegt auf seinem Kissen im Wohnzimmer. Vor ihm baumeln ein Tamburin und ein Schellenkranz von einem Spielgestell. Hinter ihm grosse Fenster, das Meret-Oppenheim-Haus und der Bahnhof liegen in der Tiefe, grauer Hochnebel oben drüber.

Maximilian ist sechs Jahre alt, hat aber schon vier Lebertumore mit Chemotherapie und einen Darmverschluss hinter sich. «Unser Wunderkind», meint seine Mutter in Anspielung auf die schlechten Überlebenschancen bei Trisomie 18.

«Jingle Bells» für eine Geige

Seine Mutter setzt Maximilian in einen Plastiksitz. Er beginnt, hin und her zu wippen, am Anfang langsam, dann immer heftiger. Als seine Mutter mit Maximilians kleinem Bruder auf dem Sofa sitzt, beginnt das Konzert. Die Kammerorchester-Musikerin und Musiklehrerin Margreet, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, setzt sich neben den Kleinen. Dann zupft sie «Jingle Bells».

Maximilian wippt nun nicht mehr, sondern lauscht ruhig. Erst, als die Musik verstummt, wippt er wieder. Sein Bruder sitzt bei seiner Mutter, isst Crackers und beobachtet den Journalisten und den Fotografen.

Margreet holt den Geigenbogen und spielt «Rudolph the Red Nosed Reindeer». Maximilian hört zu, den Blick zum Dachfenster gerichtet. Nach ein paar Stücken setzt sich die Musikerin vor Maximilian auf den Boden.

Grosse Leidenschaft für die Musik

«Zwischendurch hatten wir Augenkontakt, da spürte ich eine Verbindung zu ihm», sagt sie nach dem Konzert. Margreet hat sich in ihrer Geigenschule auf Kinder spezialisiert. Auch dort macht sie Musik für ein Kind mit einer ähnlichen Erkrankung wie Maximilian. «Es kann nicht selber spielen – sitzt aber den ganzen Tag in unserem Unterricht und freut sich an der Musik», so die Musiklehrerin. Diese Erfahrungen sind ein Grund, dass sie heute für die Musikspitex spielt.

Neugierig zupft Maximilian an der Geige.

Neugierig zupft Maximilian an der Geige.

Bild: Daniel Bossart

Als Margreet auf eine zweite, tiefer gestimmte Geige wechselt und sie Maximilian vor die Nase hält, muss man ihn nicht zweimal bitten. Neugierig zupft er daran. «Das macht er auch an unserer Ukulele gerne», so seine Mutter.

Das Konzert gefalle ihrem Sohn, erklärt sie: «Die Musik öffnet Türen, die sonst verschlossen bleiben.» Maximilian hat auch im Kindergarten Freude am Singen und Musizieren, deshalb wünschten sich seine Eltern dieses Konzert. Von dem Angebot der Musikspitex erfuhren sie von ihrem Pflegedienst.

Entstanden ist die Idee zur Musikspitex im Dezember 2020. Der Berufsmusikerin und Kulturmanagerin Mirjam Toews brachen wegen der Pandemie die Einkünfte weg. In dieser Zeit organisierte sie eine Online-Konzertreihe. Ein Pflegedienst fand das wichtig und machte eine Spende.

Ein Ensemble der Ehrenamtlichen

«Ich wollte mich dafür bedanken, indem ich für die von dieser Spitex Betreuten Weihnachtslieder spiele. So entstand die Idee zur Musikspitex», erklärt Toews. «Wir wollen die Musik zu den Menschen bringen, die nicht mehr ins Konzert können.»

Dass Mirjam Toews die Initiative Musikspitex gründete, verdankt sich einem Zufall.

Dass Mirjam Toews die Initiative Musikspitex gründete, verdankt sich einem Zufall.

Bild: Daniel Bossart

Heute treten 30 freischaffende Musikerinnen und Musiker für die Musikspitex auf: Bratsche, Querflöte, Gambe, Laute, Jazzharfe – alles da. Viele Konzerte werden von Spitex-Organisationen eingekauft und dann an ihre Klientinnen und Klienten verschenkt. Privatpersonen können auch direkt im Internet ein Konzert bestellen: «Dann wählt man sich ein Instrument. Oder man kreuzt ‹Überraschung› an. Das tun viele», lacht Toews.

Die Musikerinnen werden für ihre Konzerte fair bezahlt und für ihre Einsätze gecoacht. «Wir spielen für Hochbetagte ebenso wie für Kinder. Das ist sehr fordernd», so Toews. Sie arbeitet Teilzeit bei einer Biotechfirma und engagiert sich pro bono für die Musikspitex. Dabei tritt die Bratschistin auch selbst regelmässig auf.

Es komme vor, dass Patienten nach einem Konzert erstmals seit Langem wieder lachen. «Das ist eine Freude für alle: Angehörige, Pflegende – und für uns Musikerinnen!»

Ausweitung auf Romandie und Tessin

Hinter der Musikspitex steht der Trägerverein Cassiopeia, den Toews präsidiert. Der Verein wurde vor Kurzem als gemeinnützig anerkannt. Bisher war die Musikspitex in der Deutschschweiz aktiv. Als Nächstes kommen die Romandie und das Tessin hinzu. Ausserdem soll vermehrt für bettlägerige Personen in Pflegeheimen gespielt werden.

Zudem soll noch mehr für die pflegenden Angehöriger getan werden. Für sie gibt es zu wenige Entlastungsstrukturen, ist Toews überzeugt: «Dabei nehmen sie enorme Belastungen auf sich, damit ihre liebsten Personen möglichst lange zu Hause bleiben können. Dank unserer Konzerte können sie durchatmen und ihre Angehörigen aus einer anderen Perspektive wahrnehmen.»

Mehr Informationen über die Musikspitex unter www.musikspitex.ch.