Die Luzerner Sterbebegleiterin Christa Scheiwiller wacht nachts am Sterbebett

Wie Christa Scheiwiller aus Horw engagieren sich in der Zentralschweiz 600 Freiwillige als Sterbebegleiter. Und es werden immer mehr.

Evelyne Fischer
Drucken
Nach einer Sitzwache tankt Sterbebegleiterin Christa Scheiwiller oft Kraft bei einem Spaziergang im Wald.

Nach einer Sitzwache tankt Sterbebegleiterin Christa Scheiwiller oft Kraft bei einem Spaziergang im Wald.

Bild: Philipp Schmidli, Horw

Die Dunkelheit der Nacht. Sie hilft Christa Scheiwiller, 55, ihre Gedanken zu sortieren, ihren Kopf für die kommenden Stunden frei zu machen. Dann, wenn sie jeweils kurz vor 22 Uhr in ihre Winterjacke schlüpft, sich auf den Weg zum Sterbenden begibt und bis am nächsten Morgen an seinem Bett wacht.

Die zweifache Mutter engagiert sich seit über zehn Jahren in der Horwer Begleitgruppe für schwerkranke und sterbende Menschen. 50 Sitzwachen, 300 Stunden Freiwilligenarbeit.

Mit 17 erlebt Christa Scheiwiller, wie ihre Grosstante verstirbt. Geblieben ist ihr die «friedliche Atmosphäre, die sich im Sterbezimmer einstellte». Gut 20 Jahre später erkrankt ihr Schwiegervater schwer. «Die Konfrontation mit dem nahen Tod überforderte mich.» Sie absolviert den Grundkurs in Sterbebegleitung der Caritas Luzern:

«Ich suchte die Auseinandersetzung, damit der Tod nicht länger ein Schreckgespenst bleibt.»

Kurse in Sterbebegleitung boomen

Grundkurs in Sterbebegleitung: Das Angebot der Caritas Luzern boomt. Über 1000 Freiwillige wurden in den letzten 15 Jahren ausgebildet. Eben ist der 60. Kurs gestartet, alle 20 Plätze sind ausgebucht. Auch für den Lehrgang ab April besteht bereits eine Warteliste. Kursgeld für acht Tage: 1500 Franken.

«Das existenzielle Thema stösst seit Jahren auf ein grosses Interesse», sagt Thomas Feldmann, Leiter der organisierenden Fachstelle Begleitung in der letzten Lebensphase. «Viele melden sich aus eigener Betroffenheit an. Oder sie fragen sich: Was kann ich Sinnvolles tun?»

Der Kurs streift unter anderem die Grundlagen der Palliative Care, gibt einen Einblick in den Sterbeprozess, thematisiert Spiritualität und Glaube sowie die Abgrenzung zur Suizidbegleitung, zur aktiven Sterbehilfe. Feldmann, Theologe und Therapeut, sagt: «Wer sich mit der Motivation anmeldet, helfen zu wollen, den müssen wir bremsen.» Man lebe heute lösungsorientiert, von der Geburt bis zum Tod habe alles planbar zu sein. Sterbebegleitende aber seien von grosser Ungewissheit umgeben, wenig lasse sich vorhersehen. Feldmann sagt: «Viele Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer äussern Zweifel, ob sie es dennoch schaffen, präsent zu sein und Sicherheit zu vermitteln.» Er rät Freiwilligen, sich selber nicht zu wichtig zu nehmen. «Im Zentrum steht die Frage: Was wünschen sich Sterbende? Häufig lautet die Antwort: in Würde gehen können.»

Zahlen zur Sterbehilfe in der Zentralschweiz

18'932 Einsatzstunden leisteten 549 Sterbebegleitende 2014 in der Zentralschweiz laut einer Erhebung im Auftrag der Caritas Luzern.

72 Prozent aller Einsätze fanden in Heimen oder Spitälern statt.

68 Prozent der Freiwilligen haben eine Aus- oder Weiterbildung im Bereich der Palliative Care  und/oder Sterbebegleitung absolviert.

Wie man erkennt, was sich Betroffene wünschen

Noch deutlicher drückt sich Christa Scheiwiller aus: «Ein Sterbebegleiter muss sein Ego zurückstellen. Was zählt, sind die Bedürfnisse der betroffenen Person.» Es gelte, die Stille zu ertragen, den sich anbahnenden Abschied auszuhalten. Meist ohne Worte. Die Kräfte der Sterbenden sind oft erschöpft. Also wacht Scheiwiller am Bett, befeuchtet hie und da die Lippen, nimmt den Atem wahr, beobachtet den Brustkorb. Auf und ab. Auf und ab. Auf und ab.

Doch wie weiss man, was sich der oder die Betroffene wünscht? Die Zimmereinrichtung könne aufschlussreich sein, sagt Feldmann:

«Hängt ein Kreuz an der Wand, könnten Kerzen und Gebete als Hilfe empfunden werden.»

Aber Vorsicht: Jedes noch so gut gemeinte Ritual könne auf Betroffene übergriffig wirken. «Die Koordination über die Einsatzleitung der Begleitgruppen ist zentral, damit sich diese vorab mit den Angehörigen austauschen kann und die Freiwilligen dann über Bedürfnisse der Betroffenen informiert sind», sagt Feldmann.

Zentralschweiz zählt 40 Begleitgruppen

So wie Christa Scheiwiller, gelernte Kauffrau, spätere Spitex-Mitarbeiterin und jetzige Trauerbegleiterin, engagieren sich in der Zentralschweiz 600 Freiwillige in 40 Begleitgruppen. Die meisten sind zwischen 35 und 70 Jahre alt – und weiblich. Sterbebegleitung ist eine Frauendomäne. Die Gründe dafür: vielfältig. So sind Berufe im Sozial- und Pflegebereich häufig in Frauenhand. Auch die klassische Rollenverteilung dürfte nachwirken. «Und nicht zuletzt sind 80 Prozent aller verwitweten Menschen weiblich», so Thomas Feldmann.

Die Horwer Begleitgruppe, bestehend aus acht Frauen, leistete im letzten Jahr 36 Einsätze. Christa Scheiwiller übernimmt drei- bis viermal monatlich einen Pikettdienst. Braucht es ihren Beistand, wird sie vorgängig telefonisch informiert. «Am häufigsten werden wir von Heimen aufgeboten. Es braucht viel, damit sich pflegende Angehörige bei uns melden. Sie fühlen sich ihren Familienangehörigen gegenüber stark verpflichtet. Wenn pflegende Angehörige unsere Hilfe in Anspruch nehmen müssen, plagt sie wohl oft ein schlechtes Gewissen.» Besonders in Erinnerung geblieben ist Scheiwiller ein Einsatz bei einer alleinstehenden Frau. Ihre letzten Stunden wirkten wie ein Kampf. Sie musste erbrechen, irgendwann setzte die Rasselatmung ein – eine Reaktion auf Sekrete oder Speichel, die Betroffene nicht mehr schlucken oder abhusten können. «Ich fühlte mich hilflos», sagt Christa Scheiwiller.

Angehenden Sterbebegleitern empfiehlt sie, Ruhe zu bewahren – vor allem, wenn der letzte Atemzug erfolgt ist. «Ist jemand gestorben, braucht es kein Gjufel. Man darf sich Zeit nehmen.» Ist Scheiwiller im Heim, klingelt sie bei einem Todesfall nach der Pflege. Fand die Sitzwache im privaten Umfeld statt, weckt sie die Angehörigen.

Nur die wenigsten können zu Hause sterben

Jährlich gibt es in Luzern rund 3000 Todesfälle. «70 Prozent wünschen sich, zu Hause sterben zu können. Dies gelingt aber nur in 30 Prozent der Fälle», sagt Thomas Feldmann. Weil manchmal das soziale Netz fehlt. Oder weil pflegende Angehörige den Moment verpassen, rechtzeitig professionelle Unterstützung zu beanspruchen und schliesslich vor Überforderung eine Überweisung ins Spital oder Heim unumgänglich ist.

Damit der letzte Wunsch vieler Sterbenden in Erfüllung geht, braucht es laut Feldmann zwingend einen Ausbau der mobilen Palliativdienste. Auch mit Blick auf die demografische Entwicklung: Derzeit zählt der Kanton gut 10000 Personen über 85 Jahre. Schon in 20 Jahren werden es laut Lustat Statistik Luzern doppelt so viele sein. Feldmanns Ziel ist es, einerseits den Männeranteil zu erhöhen, andererseits in der Zentralschweiz eine «Sorgekultur» zu etablieren. «Es braucht mehr Freiwilligenarbeit in der Palliative Care und ihr gegenüber mehr Wertschätzung, weil sie ein fester Bestandteil davon ist.» Nötig sei auch mehr finanzielle Unterstützung für die Fachstelle, die Koordinationsaufgaben und die Weiterbildung übernehme, damit Begleitgruppen gut funktionieren.

«Niemand von uns ist ein Experte im Sterben»

Christa Scheiwiller sagt, die Einsätze als Sterbebegleiterin hätten ihre «psychische Widerstandskraft» gestärkt. «Bei einem Sterbenden zu wachen, macht mir bewusst, dass sich der Kreis des Lebens irgendwann schliesst. Niemand von uns ist ein Experte im Sterben.»

Nur selten erleben Sterbebegleiter einen Todesfall mit, bei der Horwerin gabs dies bislang sechs Mal. «Das sind Momente, die einem nahe gehen.» Gleichzeitig verspüre sie jeweils ein gewisses Gefühl der Erleichterung. «Es scheint eine Erlösung zu sein, gehen zu können.» Wie möchte sie dereinst die Welt verlassen? Die Frau, die sonst auf alles eine Antwort parat hatte, verstummt. «Das ist eine schwierige Frage», sagt sie. «Jetzt denke ich, es wäre schön, im Beisein meines Mannes oder meiner Kinder sterben zu dürfen. Einen Fremden an meinem Bett könnte ich mir ebenfalls vorstellen. Aber vielleicht möchte ich dann auch allein sein.»