Interview

«Wenn ich nach der regulären Arbeitszeit auf Pikett bin und jemand einen Herzinfarkt hat, kann ich nicht sagen: Tschüss zusammen!»

Mit Farah Rumy und Patrick Hässig haben gleich zwei Pflegefachleute die Wahl in den Nationalrat geschafft. Im Gespräch zeigen sie auf, wo in ihrem Job die Probleme liegen. Und wie sie als Politiker Abhilfe schaffen wollen.

Simon Hehli 50 Kommentare 12 min
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«Wir können es uns nicht leisten, dass noch mehr Leute aussteigen»: Die Pflege hat ein Image- und Nachwuchsproblem.

«Wir können es uns nicht leisten, dass noch mehr Leute aussteigen»: Die Pflege hat ein Image- und Nachwuchsproblem.

Annick Ramp / NZZ

Im Schweizer Parlament wimmelt es von Juristen, Bäuerinnen oder Beratern. Auch ein paar Ärzte gibt es. Doch eine Berufsgruppe war bis vor kurzem kaum vertreten: Pflegefachleute, die den Alltag im Spital oder Pflegeheim aus dem Effeff kennen. Das hat sich mit den Wahlen 2023 geändert. Sowohl die Solothurnerin Farah Rumy als auch der Zürcher Patrick Hässig profitierten davon, dass ihre Parteikolleginnen im zweiten Wahlgang in den Ständerat gewählt wurden.

Rumy konnte so für die SP in den Nationalrat nachrutschen, Hässig für die GLP. Auch wenn die beiden in verschiedenen Parteien politisieren, so verbindet sie doch die gemeinsame Erfahrung in einem Job, dessen Schattenseiten seit der Pandemie ein grosses Thema sind.

Herr Hässig, Sie waren ein bekannter Radiomoderator, erst mit 38 haben Sie sich entschieden, Pflegefachmann zu werden. Warum wollten Sie in einen Beruf wechseln, aus dem so viele rausmöchten?

Hässig: Das ist jetzt knapp sieben Jahre her, da war die Situation in der Pflege noch nicht so angespannt. Dank einem Zivildiensteinsatz lernte ich den Beruf kennen, er hat mich fasziniert. In der Pflege spielt das wahre Leben. Als Radiomoderator macht man tagtäglich etwas für Tausende von Hörern, aber man sitzt allein im Studio. Ich wollte direkt mit Menschen zu tun haben, einen Dialog führen statt einen Monolog.

Sie arbeiten heute auf dem Kindernotfall. Haben sich Ihre Hoffnungen erfüllt – oder waren Sie naiv?

Hässig: Nein, ich habe es nie bereut. Es ist ein enorm sinnstiftender Beruf. Aber ich habe als Quereinsteiger schnell merken müssen, dass meine Erwartungen falsch waren. Dass vieles in der Pflege einfach nicht gut läuft. Das bekommt man permanent zu hören, gerade auch von den langjährigen Kolleginnen.

Farah Rumy.

Farah Rumy.

Keystone

Frau Rumy, Sie arbeiteten bis vor ein paar Monaten als Fachfrau Interventionelle Kardiologie im Spital, jetzt unterrichten Sie nur noch als Stellvertretung an der Berufsfachschule Gesundheit Baselland. Haben Sie es im Spital nicht mehr ausgehalten?

Rumy: Nein, ich habe den Job immer gern gemacht. Die letzten vier Jahre arbeitete ich im Herzkatheterlabor, das war ein spannendes und spezialisiertes Arbeitsfeld. Aber dort ist eine Ausbildung von studierenden Pflegefachpersonen nicht möglich, und mir fehlte der Kontakt zu den Lernenden. Deshalb wechselte ich an die Berufsschule. Wegen der Sessionen des Nationalrates und der allfälligen Auslandreisen, die ich als Mitglied der aussenpolitischen Kommission machen werde, liegt ein regelmässiges Unterrichten nun leider nicht mehr drin, ich mache aber Stellvertretungen. Und ich möchte auch ein paarmal pro Monat im Spital arbeiten. So kann ich direkt an der Basis den Puls spüren und sehe weiterhin, wo die Probleme liegen.

Was macht den Job so schwierig?

Rumy: Die Flexibilität und die Aufopferung, es wird erwartet, dass wir das Privatleben zurückstellen. Ich musste viel einspringen, weil es zu wenige Fachpersonen mit der nötigen Ausbildung gab. Manchmal arbeitete ich sechzehn Stunden am Stück, ging nach Hause und stand fünf Stunden später wieder auf der Abteilung, weil mitten in der Nacht der Pager piepste.

Wie kann so etwas passieren?

Rumy: Wenn ich nach der regulären Arbeitszeit auf Pikett bin und jemand einen Herzinfarkt hat, kann ich nicht sagen: Tschüss zusammen! Und wenn der eine Patient behandelt ist, liegt auf dem Notfall meistens schon der nächste mit einem Herzinfarkt.

Hässig: Auf der Bettenstation hatten wir auch sehr lange Schichten. Ich finde es schwierig, wenn die Pflegenden dauernd einspringen. Ich mache das selten, eigentlich nur, wenn mich eine Kollegin fragt, ob ich ihr einen Gefallen tun kann. Denn wenn wir immer die Lücken stopfen, meinen die Arbeitgeber: Wir müssen nichts ändern. Es geht ja, so wie es immer gegangen ist.

Sie können doch einen Patienten nicht einfach liegen lassen und nach Hause gehen.

Patrick Hässig.

Patrick Hässig.

Keystone

Hässig: Natürlich würde ich das in Farahs früherem Job auch nicht machen – wer würde das schon? Aber in vielen Bereichen der Pflege geht es nicht stets um Leben und Tod, etwa auf normalen Bettenstationen oder in der Langzeitpflege. Und ich bin nicht verheiratet mit meinem Arbeitgeber. Sondern mit einem Menschen, den ich auch ab und zu mal sehen möchte.

Rumy: Wir Jungen getrauen uns eher einmal, Nein zu sagen. Aber für viele Ältere ist der Job eine Berufung, für die sie fast alles zu geben bereit sind. Sind die Millennials und die Angehörigen der Generation Z auf einer Station in der Minderzahl, mucken sie kaum auf.

Hässig: Das viele Einspringen ist das eine, was mich aber auch sehr stresst, ist die Ungewissheit: wenn ich Spätschicht habe und keine Ahnung habe, ob meine Ablösung am Morgen wirklich auf der Station steht – oder ob ich dann doch noch bis am Mittag bleiben muss.

Was sind die Gründe dafür, dass solche Situation vorkommen?

Hässig: Es kann sein, dass wir jemanden einstellen und diese Person noch in der Probezeit kündigt. Nach einer Woche ist sie weg – der Dienstplan ist aber für den ganzen Monat erstellt. Dann fällt jeden Tag fast eine Schicht weg. Wie füllen wir sie? Entweder selbst, indem wir einspringen. Oder durch interne Pools, also Pflegende aus anderen Abteilungen. Oder durch Leute, die von Temporärfirmen vermittelt werden. Und dann ist es gut möglich, dass der Ersatz, den man angefragt hat, die SMS nicht sieht oder viel zu spät. Ausbaden müssen wir es dann.

Rumy: Ebenfalls krass finde ich, dass man in einer strengen Schicht häufig nicht einmal die Zeit hat, aufs WC zu gehen. Zum Trinken oder Essen kommt man ohnehin nicht. Die Bedürfnisse der Patienten gehen oft vor.

Hässig: Da macht sich das Helfersyndrom bemerkbar.

Rumy: Wenn man viele solcher Situationen erlebt, haut es einem irgendwann den Nuggi raus.

Dass viele Pflegende den Beruf verlassen, ist nur ein Teil des Problems. Es kommen auch zu wenige Junge nach.

Rumy: Ja. Nicht nur steigt die Zahl der Seniorinnen und Senioren im Vergleich zu den unter 65-Jährigen in den nächsten Jahren stark an. Sondern viele ältere Menschen werden auch multimorbid sein, also an verschiedenen Krankheiten gleichzeitig leiden. Das sind viel komplexere Fälle, so dass eine Pflegefachperson pro Patient nicht mehr reicht. In Solothurn haben wir das Ziel, 25 Prozent mehr Pflegende auszubilden. Ich weiss nicht, ob wir das schaffen.

Hässig: Wir tragen den Jungen auch viel zu wenig Sorge. Man wirft die Lehrlinge ins kalte Wasser und plant sie wegen des Personalmangels als vollwertige Arbeitskräfte ein. Das ist völlig falsch. 15-Jährige kommen da in Kontakt mit Verstorbenen, mit Ausscheidungen, mit sehr unangenehmen Gerüchen. Das ist etwas völlig anderes als eine Lehre im Büro. Was man in unserem Beruf erlebt, muss man zuerst einmal verarbeiten können. Kürzlich sagte mir ein 18-jähriger angehender Fachmann Gesundheit, er mache nachher eine Lehre als Automechaniker. So etwas darf uns nicht passieren.

Rumy: Es kam schon vor, dass Lernende in der Berufsschule zu mir sagten: «Frau Rumy, wir werden versklavt auf der Abteilung.» Und sie hatten recht. Viele Lernende müssen voll arbeiten und werden dabei gar nicht betreut. Oder von Pflegenden, die keine Ausbildung als Berufsbildende haben. Manche machen das vielleicht gut, weil sie es intuitiv können. Andere sind überfordert.

Hässig: War das denn früher besser?

Rumy: Nicht unbedingt. In meiner Ausbildung erlebte ich auch Abgründe. Einmal hätte ich dringend essen gehen sollen. Ich war schon halb aus dem Zimmer, da sagte mir der Patient, er habe in die Hosen gemacht. Ich fragte die diplomierte Kollegin, ob ich das noch machen solle vor dem Zmittag. Sie sagte, ich solle endlich essen gehen. Als ich nach 45 Minuten zurückkam, fragte ich nach dem Patienten. Die Kollegin sagte: «Vielleicht denkst du auch mal ein bisschen mit, du bist ja verantwortlich für den Patienten.» Sie hatte ihn eine Stunde lang so liegen lassen. Das ist schlimm.

Haben solche Erfahrungen dazu beigetragen, dass Sie politisiert wurden? Und dazu, dass Sie SP-Mitglied sind?

Rumy: Ich komme aus einem freisinnigen Haus. Mein Vater hat immer wieder mit uns diskutiert, und da habe ich auch gemerkt, dass ich oft anderer Meinung war. Ich habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, da war die SP die logische Wahl. Aber den Ausschlag dafür, dass ich in die Politik gegangen bin, hat die Pandemie gegeben.

Inwiefern?

Rumy: Bund und Kantone haben sehr klare Anforderungen an uns Pflegende gestellt: Wir mussten funktionieren! Als ich Corona hatte, ging es mir hundsmiserabel, aber die Politik verlangte von mir, dass ich arbeiten gehe. Also stand ich im Spital auf der Matte. Jetzt muss die Politik uns Pflegenden endlich etwas zurückgeben. Viele wurden durch die Covid-Erfahrungen kaputtgemacht, sie sind ausgebrannt. Einmal kam eine langjährige Kollegin um drei Uhr morgens weinend zu mir und sagte: «Ich kann nicht mehr, ich kündige!»

Herr Hässig, Sie zogen mit dem Etikett «Stimme der Pflege in Bern» in den Wahlkampf. Also hat Sie offensichtlich ebenfalls der Job politisiert.

Hässig: Ich war immer politisch interessiert. Aber solange ich Journalist war, konnte und wollte ich mich nicht in diesem Bereich exponieren. Das änderte sich mit meinem Jobwechsel. Ich äusserte mich in den sozialen Netzwerken zum Zustand der Pflege und bekam viel Feedback à la «Endlich sagt es mal einer». Mitten während der Pandemie hatte ich im Herbst 2021 einen Auftritt in der «Arena». Da machte es bumm, und ich erhielt Hunderte von Nachrichten von Leuten, die ich nicht kannte. Dass die GLP für mich die richtige Partei ist, war für mich immer klar. Ich hänge keiner Ideologie an, deshalb war es klar, dass ich nicht zur SVP oder zur SP gehe. Ich bin pragmatisch und lösungsorientiert.

Rumy: Hey, hallo! Als GLPler hast du doch auch eine Ideologie. Und lösungsorientiert bin ich ebenso.

Hässig: Es ist halt die Stärke einer Zentrumspartei, dass wir gedanklich manchmal etwas flexibler sind. Ich habe gemerkt, dass die Gesundheitspolitik noch keine Priorität hat in der GLP. Mir hat mein Kernthema insofern geholfen, als ich gute Positionen für die Wahlen zum Kantonsrat und dann auch für den Nationalrat bekam.

Der steile politische Aufstieg, den Sie beide erlebt haben, wäre nicht möglich gewesen ohne Corona. Einverstanden?

Hässig: Das ist eine etwas gewagte These. Ich habe schon vor der Pandemie auf die schwierige Situation der Pflege hingewiesen. Aber es kann schon sein, dass es mir nicht jetzt schon zur Wahl in den Nationalrat gereicht hätte.

Rumy: Die grössere Sichtbarkeit der Anliegen der Pflege hat uns beiden sicher geholfen. Es ist aber auch nicht mehr als recht, dass es jetzt ein paar Pflegefachleute im Parlament gibt. Ich erinnere daran, dass wir wahnsinnig viele Landwirtschaftsvertreter im Bundeshaus haben, obwohl die Bauern nur etwas mehr als zwei Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die knapp 100 000 Pflegefachleute waren bisher massiv untervertreten. Ich höre oft von Pflegenden: Endlich jemand, der hinsteht und unsere Positionen vertritt.

Sie können nun bei der Umsetzung der Pflegeinitiative mitarbeiten. Was muss passieren, damit wir nicht in einen Pflegenotstand hineinschlittern?

Hässig: Das erste Paket ist ja schon durch, ab dem Sommer sollen jene, die eine Ausbildung als Pflegefachleute machen, mehr Geld bekommen. Ich erwarte von den Kantonen, dass sie das auch wirklich umsetzen. Noch wichtiger ist für mich aber das zweite Paket mit den Arbeitsbedingungen. Wir können es uns nicht leisten, dass noch mehr Leute aussteigen. Wir sind keine Töggeli, die man nach Belieben herumschieben kann.

Rumy: Es gibt nicht die eine Zauberformel, die auf einen Schlag alles gutmacht. Es sind viele kleine Schritte nötig. Für mich zentral ist die Wertschätzung, die die Politik und die Arbeitgeber den Pflegenden entgegenbringen. Dazu gehört, dass die Pausen eingehalten werden können. Oder dass das Kleiderwechseln zur Arbeitszeit zählt. Dafür mussten wir im Kanton Solothurn jahrelang kämpfen. Oder dass man eine Sonderprämie bekommt, wenn man einspringt. Oder dass die Spitäler die Kita-Kosten mitfinanzieren.

Hässig: Einverstanden. Das kostet alles, doch das sollte die Pflege der Politik wert sein – sie muss entsprechend den Spitälern und Pflegeheimen höhere Tarife für die Pflege gewähren. Ein wichtiger Punkt ist für mich auch, dass die Arbeitsbedingungen für die Festangestellten attraktiver werden, so dass sich nicht immer mehr Pflegende für die Temporärarbeit entscheiden, weil sie dadurch mehr Flexibilität und höhere Löhne erhalten. Ich arbeite viel lieber in einem fixen Team – auch weil ich dann sicher sein kann, dass alle wissen, was zu tun ist, und keine riskanten Situationen für die Patienten entstehen.

Rumy: Ja, in diesem Bereich wären «quick wins» möglich. Ebenso bei den Teilzeitangestellten. Wir sind primär ein Frauenberuf. Und ich kenne einige Kolleginnen, die nur 20 oder 30 Prozent arbeiten wollen, aber so keinen Job finden. Dann kommen sie eben nur für eine Schicht pro Woche, das ist doch besser als nichts und bringt schon etwas Entlastung!

Hässig: Wegen der Pandemie haben so viele Menschen der Pflege den Rücken gekehrt. Die sind ja alle noch da, irgendwo. Wenn wir sie überzeugen, dass sich die Arbeitsbedingungen nachhaltig verbessern werden, kommen sie auch wieder zurück.

Rumy: Zu dieser Verbesserung gehört für mich auch, dass wir klare Regeln einführen, wie viele Pflegende es für eine bestimmte Anzahl von Patienten braucht. In einem Dienst müssen Pflegefachleute teilweise allein bis zu zehn aufwendige Patienten betreuen, das darf nicht sein.

Hässig: Dann darf man aber keine Angst haben, dass auch einmal zu viele Leute in einer Schicht sind.

Ist das nicht eine reine Luxusdebatte? Solange man zu wenig Pflegefachleute hat, ist es schwierig, die Arbeitsbelastung zu reduzieren, ohne gleichzeitig den Mangel an Personal zu verschärfen.

Rumy: Ja, in dieser Frage geht es mehr darum, wo wir in Zukunft hinkommen wollen. Indem wir sagen: Das ist die Qualität, wie wir sie in der Pflege wollen. Die Schweiz hatte einst eine super Qualität, heute ist das leider nicht mehr der Fall. Wir können gerade noch das Nötigste machen.

Könnte man den Personalmangel lösen, indem man jeder Pflegefachfrau 1000 Franken mehr Lohn geben würde pro Monat?

Hässig: Ich glaube nicht, zumindest nicht nachhaltig. Der Effekt würde rasch verpuffen, danach stünden rasch wieder die alltäglichen Arbeitsbedingungen im Vordergrund.

Rumy: Da muss ich widersprechen, der Lohn ist ja auch ein wesentliches Element der Wertschätzung. Die Löhne der Pflegefachleute sind seit Jahren nicht mehr nach oben angepasst worden – und ich frage mich, ob das nur daher kommt, dass wir in einem klassischen Frauenberuf tätig sind. Handlungsbedarf gibt es auch bei den Lehrlingslöhnen. Ich war schockiert, als ich meinen Lohnausweis von 2009 hervorgenommen und festgestellt habe, dass Fachpersonen Gesundheit in der Lehre heute fast genauso wenig verdienen wie ich damals. Mein jüngerer Bruder hat das KV gemacht, da gab es in der gleichen Zeit einen deutlichen Lohnsprung. Manche meiner Lernenden können es sich nicht einmal leisten, über den Mittag ein Sandwich zu kaufen.

Die Pflegenden beklagen sich seit Jahren lautstark darüber, wie schlecht sie es haben. Da kann es kaum erstaunen, dass die Jungen zögern, in diesen Beruf zu gehen.

Rumy: Ja, das ist das Dilemma, in dem wir stecken.

Hässig: Ich kritisiere vielleicht die Arbeitgeber, die Politik, die Situation im Generellen. Ich jammere aber nicht über den Beruf selbst. Wenn ich am Abend heimkomme, weiss ich, was ich Gutes gemacht habe. Wenn es einem Menschen am Abend besser geht als am Morgen. Wenn Eltern, die vor kurzem noch geweint haben wegen der Krankheit ihres Kindes, mit diesem wieder nach Hause gehen können und super dankbar sind dafür. Das ist so viel wert! Wenn man die Rahmenbedingungen korrigieren würde, hätte man ganz viele glückliche Mitarbeiter in den Spitälern und Pflegeheimen.

Rumy: Von den Patienten erhalten wir viel Wertschätzung. Wir müssen aber parallel dringend eine Imagekampagne starten, um auf all diese faszinierenden Facetten unseres Berufs hinzuweisen.

Hässig: Und darauf, dass es kaum irgendwo sonst eine so grosse Jobsicherheit gibt.

Sie politisieren in unterschiedlichen Parteien. Führen Ihre Erfahrungen im gleichen Beruf dennoch dazu, dass Sie nicht nur in Bezug auf die Pflege, sondern auch hinsichtlich der gesamten Gesundheitspolitik sehr ähnliche Positionen haben?

Rumy: Wir ticken sicher in vielen Fragen sehr ähnlich.

Hässig: Mir sind schon die Kosten wichtig, wir müssen das Wachstum dämpfen. Die Belastung der Prämienzahler ist am oberen Limit. Auch deshalb sollten wir darüber sprechen, ob wir zu viele Spitäler haben.

Rumy: Es gibt viele falsche Anreize im Gesundheitswesen. Die öffentlichen Spitäler sind weniger das Problem. Die privaten Spitäler hingegen können sich die Rosinen herauspicken und nur die lukrativen Patienten nehmen. Die öffentlichen Spitäler, die eine Versorgungspflicht für alle haben, reagieren auf den Kostendruck, indem sie sich dem Wettbewerb unterordnen und ihr Angebot so anpassen, dass es möglichst gewinnbringend ist. Darunter leiden dann aufgrund der höheren Belastung die Pflegenden und die Ärzte. Stattdessen brauchte es höhere Vergütungen aus der Grundversicherung, so dass die öffentlichen Spitäler kostendeckend arbeiten können.

Hässig: Wir müssen die Gesundheitspolitik insgesamt grösser denken. Braucht es denn in unserem Land so viele 24-Stunden-Betriebe? Wenn zwei Spitäler fünfzehn Minuten Autofahrt auseinanderliegen, kann man eines davon problemlos in eine Tagesklinik umwandeln, die von 7 bis 21 Uhr in Betrieb ist. So fällt die Nachtschicht weg, die für viele Pflegende ein Stress ist – und man spart natürlich auch Personal und Geld. Für mich ist das niederländische System vorbildlich. Auch was die Förderung der Pflege daheim betrifft. Die Spitex wird in Zukunft noch viel wichtiger sein als heute.

Rumy: Was die Spitex betrifft, bin ich einverstanden. Aber auch in den Niederlanden läuft nicht alles perfekt. Wir müssen aufpassen, dass wir das unvergleichlich gute Gesundheitssystem, das wir heute haben, nicht aufs Spiel setzen.

50 Kommentare
Hans Galler

Jammern auf sehr hohem NIveau: Auch  Spitäler müssen sich an die Gesetze halten: "Die gesetzliche Arbeitszeit beträgt 8 Stunden täglich. Höchstens und ausnahmsweise sind 10 Stunden erlaubt, die innerhalb von maximal sechs Monaten ausgeglichen werden müssen. Wöchentlich darf in der Regel nicht mehr als 48 Stunden gearbeitet werden." 16 Stunden arbeiten und nach 5 Stunden Pause wieder los ? Habe da starke Zweifel. Während der Pandemie war das vielleicht anders. Die Löhne im Gesundheitswesen sind hoch ( in Basel-Stadt im Durchschnitt 78 000 CHF ), soviel verdienen in Deutschland nicht einmal die Ärzte. Viele junge Frauen werden halt Mutter und ziehen sich aus dem Berufsleben zurück.  

Esther Gilgen

Im Pflegeberuf sind Persönlichkeitsmerkmale wie Demut, Nächstenliebe, Servilität und das Wohlwollen für andere gefordert. Das sind Attribute, die der heutigen jungen Generation wohl aus Schulbüchern und Studien bestens bekannt sind. Sie wissen viel darüber - davon verstehen tun sie wenig. Im Gegenteil. Hochmut und Eigennutzen beherrschen die Absichten und das Verhalten oft. Ich besuchte meine Mutter oft in Spital und Pflegeheim. Es kam vor, dass die Patienten und Bewohner das junge Pflegepersonal erdulden mussten und ihren Launen und Missstimmungen ausgesetzt waren. Ständiges beklagen, andauernd unterschwelliges Machtgehabe, schnippiges Verhalten und Gepflegte von oben herab behandelt. Immer mehr mit sich und ihren Problemen des Jobs befasst, statt mit den Anliegen der Patienten. Das bestätigen viele Pflegefachkräfte, die etwas älter sind und sich über die junge Generation in ihrer Branche beklagen. Nein, ich will hier nicht wegreden, wie belastend und anstrengend der Job in der Pflege ist oder wie wertvoll diese Arbeit ist. Doch viele Jobs sind inzwischen sehr belastend. Lehrer, Busfahrer, Ärztin, Journalistin, Gipser usw. Alle sind belastet. Dem Pflegepersonal ist es durch geschicktes politisches Taktieren gelungen sich in eine gute Position zu rücken. Und jetzt nutzen sie es polemisch aus. Das ist nicht gut - auch wenn die Punkte, die sie beklagen, legitim sind.