Zusätzliches Personal für die Pflege der Babyboomer

Mit der Alterung der geburtenstarken Jahrgänge benötigt die Schweiz Zehntausende von zusätzlichen Pflegefachleuten. Der Nationalrat stimmt deshalb einer Ausbildungsinitiative zu. Die Pflege-Initiative des Berufsverbands lehnt er hingegen ab.

Christof Forster, Bern
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Die Politik will dafür sorgen, dass mehr Pflegefachleute ausgebildet werden.

Die Politik will dafür sorgen, dass mehr Pflegefachleute ausgebildet werden.

Christian Beutler / Keystone

Initianten verkaufen ihre Begehren gerne mit plakativem Vokabular. So warnt der Pflegefachverband (SBK) vor einem Pflegenotstand: «Pflegende schlagen Alarm.» Der Mangel an qualifiziertem Personal sei gravierend. Doch stimmt dies tatsächlich? Wer die OECD-Statistik konsultiert, kommt zu einem anderen Schluss. Mit 17 Pflegenden pro 1000 Einwohner liegt die Schweiz an zweiter Stelle, knapp hinter Norwegen, in einem Vergleich von 36 Ländern. Der OECD-Schnitt liegt bei 9 Pflegenden pro 1000 Einwohner. Laut dem SBK sind diese Zahlen jedoch aufgebläht und verbärgen deshalb den Pflegenotstand in der Schweiz. Denn die OECD addiert Pflegefachleute mit Ausbildung auf Hochschulstufe und Fachleute Gesundheit (FaGe), die eine Berufslehre absolvieren. Die Pflegefachleute sind besser qualifiziert und können deshalb mehr Aufgaben übernehmen als Gesundheitsfachleute. Aber es ist auch klar, dass es im Spitalalltag beide braucht.

In anderen Ländern werden die beiden Ausbildungsstufen für die OECD-Statistik zwar auch in einen Topf geworfen. Weil aber die Schweiz über viel Pflegepersonal auf mittlerer Stufe (FaGe) verfügt, wird der Vergleich tatsächlich verzerrt. Das Bundesamt für Statistik ist dem Wunsch des SBK nachgekommen und hat diesen Sommer einen differenzierten Vergleich geliefert. Nimmt man nur die Pflegefachleute der höchsten Stufe, liegt die Schweiz im OECD-Vergleich nicht mehr an der Spitze, aber immer noch auf Rang 4 (11,4 Fachleute pro 1000 Einwohner). Hinzu kommt, dass das Pflegepersonal in der Schweiz im Schnitt nur in einem 75-Prozent-Pensum arbeitet, was den Personalbedarf erhöht.

Kleine Spitäler – grosser Bedarf

Ein weiteres Element ist die hohe Nachfrage nach Gesundheitspersonal in der Schweiz, bedingt auch durch die dezentralen Strukturen des Gesundheitssystems. Weil die Spitäler kleiner sind als im OECD-Schnitt, können Skaleneffekte nicht realisiert werden. Die Organisation der Pflege ist dadurch aufwendiger. Jérôme Cosandey von der wirtschaftsnahen Denkfabrik Avenir Suisse weist darauf hin, dass die Schweiz noch nicht alle Ressourcen ausschöpft. Im Spitex-Bereich beträgt der Beschäftigungsgrad lediglich 43 Prozent. «Das heisst, ein Arbeitgeber muss 12 Personen anstellen, um 5 Stellen zu besetzen, was sehr aufwendig ist», sagt Cosandey. Ein Problem sind auch die vielen Abgänge. Fast die Hälfte der ausgebildeten Pflegefachleute verlassen ihren Beruf.

Angesichts der oben zitierten Zahlen fällt es schwer, von einem Notstand zu sprechen. Hingegen bildet die Schweiz zu wenig eigenen Nachwuchs aus. Dies wird wettgemacht durch ausländische Fachkräfte. Zudem wird der Bedarf in den kommenden Jahren steigen. Aufgrund der Alterung der geburtenstarken Jahrgänge brauche es mehr Pflegepersonal, sagt Dorit Djelid vom Spitalverband H+. Das Gesundheitsobservatorium (Obsan) schätzt den zusätzlichen Bedarf an Pflegepersonal (über alle Kategorien) bis 2030 auf 50 000 Beschäftigte.

Berset wehrt sich vergeblich

Eine Mehrheit des Nationalrats fand am Dienstag, dass sich der Staat verstärkt engagieren solle angesichts des sich abzeichnenden Mangels. Mit 124 zu 68 Stimmen nahm der Rat einen indirekten Gegenvorschlag seiner Gesundheitskommission an. Dagegen stimmten die SVP und zwei Drittel der FDP. Der Gegenvorschlag zur Pflege-Initiative ist vor allem eine Ausbildungsoffensive. Neu werden Spitäler, Pflegeheime und Spitex-Organisationen verpflichtet, Pflegepersonal auszubilden. Der Kanton soll ihnen verbindliche Vorgaben zur Zahl der Ausbildungsplätze machen. Der Bund wird die Kantone, die sich an den Mehrkosten beteiligen müssen, finanziell unterstützen. Die Politik ortet im geringen Ausbildungslohn einen weiteren Grund für die tiefe Zahl der Abschlüsse. Die Kantone sollen deshalb verpflichtet werden, angehenden diplomierten Pflegefachpersonen Ausbildungsbeiträge zu gewährleisten. Dadurch werde das Diplom für Quereinsteiger attraktiver. Der Nationalrat hat für die zusätzlichen Aufwendungen einen auf acht Jahre beschränkten Bundesbeitrag von 469 Millionen Franken bewilligt.

Die grosse Kammer kommt den Initianten in einem weiteren Punkt entgegen. Pflegefachleute sollen neu vom Bundesrat bezeichnete Leistungen auch ohne Anordnung eines Arztes direkt mit den Krankenkassen abrechnen können. Damit werde mehr Eigenverantwortung gewährt, was den Beruf aufwerte, wurde argumentiert. Bundesrat Alain Berset wehrte sich vergeblich gegen diese Ausweitung der Kompetenz. Er warnte vor höheren Kosten zulasten der Prämienzahler und der Schaffung eines Präjudizes.

Der Nationalrat lehnte die Vorgabe seiner Kommission ab, wonach zur direkten Abrechnung eine Vereinbarung zwischen Pflegefachleuten und Kassen notwendig sei. Dies führe zur Aufhebung des Vertragszwangs durch die Hintertüre. Eine knappe Mehrheit aus SP, Grünen und Grünliberalen obsiegte.

Keine Sonderstellung in der Verfassung

Die Pflege-Initiative empfiehlt der Nationalrat mit 107 zu 82 Stimmen (bei 6 Enthaltungen) zur Ablehnung. Neben dem links-grünen Lager stimmten zehn Vertreter der Mittefraktion und zwei Freisinnige für das Volksbegehren. Die Mehrheit erachtet es als falsch, einer spezifischen Berufsgruppe eine Sonderstellung in der Verfassung einzuräumen.

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