Gesundheitswesen
Notstand im Notfall: Die Pflege braucht Nothilfe – bis 2030 könnten 65'000 Fachkräfte fehlen

Geht es nach denen, die an der Basis arbeiten, ist das Schweizer Pflegesystem am Ende. Bis 2030 fehlen bis zu 65000 Pflegende an den Betten, jede Zweite wirft frühzeitig das Handtuch. Bestandsaufnahme einer aufgewühlten Branche.

Anna Miller
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Pflegemitarbeiterinnen des Krankenhauses in Flawil im Kanton St. Gallen halten eine Sitzung ab.

Pflegemitarbeiterinnen des Krankenhauses in Flawil im Kanton St. Gallen halten eine Sitzung ab.

CH Media

Operation am Herzen, über Stunden, danach Intensivstation, an die Maschinen angeschlossen die erste Nacht im Spital. Wenn das Gröbste überstanden ist, kommen die Patienten zu Geri Pfammatter auf die Station. Intermediate Care Abteilung der Herz- und Gefässchirurgie des Inselspitals Bern, im Zwischenraum zwischen Intensivstation und stationärer Abteilung. Und Pfammatter, der von seinem Arbeitsalltag berichtet, als Pflegefachmann mit eidgenössischem Diplom, versucht, sie zu pflegen, so gut das in der heutigen Zeit eben noch geht.

Schichtbetrieb, Papierkrieg und wenig Pause

Er erzählt von einem Alltag, in welchem die Pflegenden alles sein müssen: Seelsorger, Mediziner, Freund, Helfer, Fachkundige, Berater. Ein Alltag zwischen Schichtbetrieb, Papierkrieg und 15 Minuten Pause für ein bisschen Wasser und ein Frühstück. Wo kaum mehr Rückzugsmöglichkeiten da sind und immer weniger Zeit für ein Gespräch. Und damit für das, wofür die Ausgebildeten eigentlich an diesen Betten stehen: Um nahe am Menschen zu sein, nicht nur an einem gebrechlichen Körper.

Anspruchsvollere Arbeit

Der Pflegeberuf war menschlich schon immer anspruchsvoll. Aber Blut sehen und Nachtschichten verdauen sind schon lange nicht mehr die Hauptbelastungen, mit denen Pflegende in der Schweiz konfrontiert sind. Die Möglichkeiten der modernen Medizin sind gestiegen, der Mensch kann selbst mit komplexer Krankheitsgeschichte länger am Leben gehalten werden. Das heisst aber auch: Es wird anspruchsvoller, chronisch kranke Menschen bis ins hohe Alter zu pflegen. Die Pflegeheime sind damit genau so konfrontiert wie ambulante Einrichtungen. Über 100000 Pflegeheimplätze verfügt die Schweiz heute. 2018 verursachten die Alters- und Pflegeheime Betriebskosten von über zehn Milliarden Franken – über die Hälfte dieser Kosten müssen die Patientinnen und Patienten dabei selbst bezahlen. 20 Prozent der über 80-Jährigen in der Schweiz leben im Pflegeheim, Lebenserwartung: 82.9 Jahre, eine der höchsten der Welt. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer liegt bei über 800 Tagen pro Bewohner.

Verlagerung nach Hause

Seit der Einführung der Fallpauschale hat sich zudem die Aufenthaltsdauer der Menschen in den Spitälern verringert. Der Genesungsprozess wird in die eigenen vier Wände verlagert - und die Pflegenden, beispielsweise bei der Spitex, müssen sich intensiver kümmern. Das braucht nicht nur ein dickes Fell, sondern auch mehr Fachkenntnisse – und entsprechend geschultes Personal.

Der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK wartet mit alarmierenden Zahlen auf: 46 Prozent aller Pflegenden verlassen den Beruf wieder und satteln um, ein Drittel von ihnen vor dem 35. Lebensjahr. Die Arbeitenden aus dem Ausland, die über Jahre ein mediales Thema waren, können den Mangel an Personal schon lange nicht mehr kompensieren, und der demografische Wandel tut sein Eigenes dazu, dass sich die Lage in den nächsten Jahren zuspitzen wird. Der Verband rechnet mit 65000 Pflegenden, die bis 2030 in der Schweiz fehlen, vor allem in der Langzeitpflege.

Der «graue Tsunami» rollt auf uns zu

Die gut ausgebildeten Fachkräfte sind dabei Mangelware. Laut Schätzungen des Bundes braucht es bis zum Jahr 2030 etwa 120000 Pflegefachleute auf Tertiärstufe, ein Plus von 32 Prozent. Der Think Tank Avenir Suisse prägte mit Blick auf das Altern der Babyboomer vor zwei Jahren den Begriff des «grauen Tsunami», die auf das Pflegesystem Schweiz zurollt. Um den Bedarf in Zukunft zu decken, müssten jährlich 6000 Pflegefachleute neu ausgebildet werden – doch es sind derzeit nicht einmal 3000. Dabei bemühen sich die Hochschulen seit Jahren, Studierende anzulocken. Weiterbildungsangebote im Pflegebereich an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) füllen ganze 30 Seiten in einer Broschüre. «Die Mindesteilnehmerzahl werde grundsätzlich erreicht, aber mit grossem Aufwand», sagt Katharina Fierz, Leiterin des Instituts für Pflege an der ZHAW.

Volksinitiative ist zustande gekommen

Der Pflegeverband hat deshalb 2017, nach Jahren des erfolglosen Lobbyings im Bundeshaus, eine Volksinitiative lanciert, um sich politisch Gehör zu verschaffen. Innert acht Monaten kamen über 114 000 Unterschriften Zu Stande, vergleichsweise schnell. Wohl auch, weil das Ansehen des Pflegers in der breiten Bevölkerung so hoch ist wie in kaum einer anderen Berufsgattung - den Beruf ausüben wollen am Ende dann aber doch die Wenigsten. Der Bundesrat lehnte die Initiative zwar ab, doch die zuständige Kommission des Nationalrats hat, will handeln. Sie hat, einen indirekten Gegenvorschlag ausgearbeitet, den der Nationalrat am Montag behandeln wird. Dieser kommt den Forderungen der Initianten teilweise entgegen. Klar sind sich alle Akteure: Es braucht mehr Geld und mehr Anstrengungen der Kantone, Pflegefachkräften eine höhere Ausbildung zu erleichtern und diese attraktiver zu gestalten.

Der Verband fordert zusätzliche Investitionen, damit die ausgebildeten Fachpersonen möglichst lange im Beruf bleiben. Die so genannte «Bildungsoffensive» sei nur die eine Seite der Geschichte, sagt Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des SBK. Man müsse die Abwanderung aus dem Beruf stoppen. Und sich fragen, ob die zunehmende Abfertigung des Patienten das Ziel sei einer guten Pflege sei. «Satt, warm, sauber», das könne ja nicht alles sein, was der Mensch brauche. Durchschleusen, waschen, Verband anlegen für das Emotionale und Psychologische bleibt keine Zeit. Laut einer Umfrage der Unia, die im Februar dieses Jahres publiziert wurde, wollen 47 Prozent der Befragten nicht bis zur Pensionierung in der Pflege arbeiten. 86 Prozent fühlen sich oft müde und ausgebrannt, 72 Prozent gaben an, regelmässig unter körperlichen Beschwerden zu leiden. Befragt wurden über 1000 Personen, die in der Langzeitpflege arbeiten, 90 Prozent Frauen, Bruttolohn bei einer 72-Prozent Anstellung: 2900 Franken pro Monat.

Quantität steht im Vordergrund

Salome Rohner, 25 Jahre alt, lief schon mit 23 Jahren in Zürich aus den Türen eines Spitals hinaus und setzte sich dann bei einer Versicherungsgesellschaft ins Büro, als medizinische Kundenbetreuerin. Jetzt klärt sie Gesundheitszustände fürs Krankentaggeld ab und sagt, sie würde auch wieder zurückgehen – wäre die Lage eine andere. «Aktuell steht die Quantität im Vordergrund, möglichst viele Patienten pflegen, in möglichst kurzer Zeit. Man kann es nicht so gut machen, wie man möchte.» Rohner hatte vor ihrem ersten Stellenantritt drei Jahre an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften studiert, den Bachelor in Pflege absolviert, eine hoch qualifizierte, junge Frau. Eine von denen, die die Schweiz händeringend sucht.

Rohner sagt, sie höre aus ihrem Umfeld viele, die über Stress klagten. «Einige haben mit 25 Jahren schon ein Burnout und müssen sich eine Auszeit nehmen», an Schulen und in Diskussionsrunden erzählen junge Pflegende, dass sie öfter Psychopharmaka verabreichen, um die Patienten zu beruhigen, statt andere Methoden zu Rate zu ziehen - weil schlicht die Zeit fehle. Andere Pflegende, die sich teilweise anonym an die Medien wenden, berichten von vertauschten Medikamenten, ignorierten Infektionen, Heimbewohnern, die nicht geduscht werden, Personal, das nachts alleine für 30 Betten zuständig ist.

Fahne des Protests

Yvonne Ribi, Mitinitiantin der Initiative, verlässt das Café im Zentrum Berns wieder für die nächste Sitzung. Vor 12 Jahren stand sie selbst am Unispital Zürich an den Betten, nun trägt sie statt Pflegekleidung die Fahne des Protests. Ihre Mission: Der Pflegebranche politisches Gewicht geben, irgendwo zwischen Kampfjets und Burkadebatte. Ribi sagt:

Solange nichts zur Erhöhung der Berufsverweildauer im Gegenvorschlag enthalten ist, werden wir kaum zurückziehen

Auch werde man keinen Gegenvorschlag unterstützen, der ein Schritt in Richtung Aufhebung des Vertragszwanges bedeutet. Rausholen, was noch geht, obwohl sich die Haltung Bundesberns schon abzeichnet: Berufsbedingungen sind Sache der Institutionen und der Kantone, keine Frage, die auf Ebene der Verfassung geregelt werden muss. Einige gehen davon aus, dass die Initianten den Gegenvorschlag akzeptieren und ihre Initiative zurückziehen werden. Weil es schlicht pragmatischer ist, Zeit zu sparen. Denn selbst bei Annahme der Initiative würde die Umsetzung Jahre in Anspruch nehmen. Der Verfassungsartikel müsste in ein Gesetz gegossen werden. Das hiesse Vernehmlassung, Botschaft Kommissionssitzungen, Ratsdebatten, Differenzbereinigung. Das braucht Zeit.

Den Pfleger Geri Pfammatter muss das nicht mehr lange kümmern, er ist bald pensioniert. Pfammatter, 61 Jahre alt, seit dreissig Jahren im Beruf, arbeitet seit Jahrzehnten im Teilzeitpensum, macht viel Yoga – deshalb, so glaub er, kann er die Belastung noch stemmen.

Arbeitest du Vollzeit, gehst du psychisch und körperlich kaputt».

Während seine Kolleginnen den Beruf zu Tausenden wieder verlassen, hat er für sich einen Weg gefunden, mit den Anforderungen im Beruf umzugehen. Für ihn sei er immer noch der schönste Beruf der Welt. Und so sinnstiftend wie kaum etwas sonst.

Keine Einbussen bei der Qualität

Keine Einbussen bei der Qualität Der Bundesrat hat die Pflege-Initiative ­abgelehnt. Nun verhandelt das Parlament. Der Pflegehilfeschrei ist in Bundesbern angekommen: Der Nationalrat berät am Montag als Erstrat über den indirekten Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für eine starke Pflege». Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) des Nationalrates schlägt unter anderem vor, dass Pflegefachpersonen neu bestimmte Leistungen ohne ärztliche Anordnung erbringen können – sie würden direkt mit den Krankenkassen abrechnen. Ausserdem sollen die Kantone die Ausbildung von Pflegenden unterstützen, mit fast 500 Millionen Franken Anschubhilfe finanzieren.

Auch sollen die Kantone Pflegefachpersonen, die eine höhere Ausbildung absolvieren, während der Studienzeit finanziell unter die Arme greifen können. Der Bundesrat hatte die Initiative vor rund einem Jahr abgelehnt. Er argumentierte damals, die Pflegesituation sei nicht alarmierend, sondern, verglichen mit den OECD-Ländern, durchaus gut. Aktuell verfügt die Schweiz noch über rund doppelt so viel Pflegepersonal wie die EU-Staaten im Durchschnitt, auf 1000 Einwohner kommen 17 Pflegende. Doch die vorberatende Kommission liess dieses Argument nur teilweise gelten. Man müsse den hohen Erwartungen der Schweizer Bevölkerung und dem vergleichsweise hohen Standard Rechnung tragen, sagt Ruth Humbel, (CVP), die Kommissionspräsidentin. «Wir wollen keine Einbussen bei der Qualität, die Initiative geht aber in einigen Punkten zu weit.»

Bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie

Einig ist man sich in Punkto Aus- und Weiterbildung. Doch arbeitsrechtliche Massnahmen und die Fragen nach Lohnniveau hätten auf Verfassungsebene schlicht nichts zu suchen, sagt Humbel. Stattdessen sollten die Institutionen mehr Anreize schaffen – beispielsweise, indem sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern. Ähnlich sieht es auch ihr Kommissionskollege Philippe Nantermod (FDP). «Die perfekte Lösung für die Probleme wird nicht aus Bern kommen», sagt er. Nantermod, aber auch sein Kollege Thomas De Courten (SVP) orten Probleme bei der Idee einer direkten Kassenabrechnung für Pflegefachleute. Sie befürchten: Öffnet man diese Schleuse, kommen andere Berufsgruppen wie Physiotherapeuten oder Ergotherapeuten mit ähnlichen Ansprüchen. De Courtens Partei, die SVP, lehnt sowohl die Initiative wie auch den Gegenvorschlag ab. Weil sie einen Anstieg der Krankenkassenprämien befürchtet. Während sich die Initianten des Volksbegehrens über konkrete finanzielle Forderungen und Schätzungen ausschweigen, warnt der Krankenkassenverband Santésuisse vor explodierenden Kosten. Der Verband rechnet mit Mehrkosten von fünf Milliarden Franken bei Annahme der Initiative. Und er lehnt auch den indirekten Gegenvorschlag ab. Stattdessen fordert er einen einfacheren Einstieg in die Pflegeberufe auf Stufe Berufslehre.

Unbegründete Befürchtung

Die Befürchtung, dass plötzlich Abertausende von Pflegefachleuten wild Leistungen mit den Krankenkassen abrechnen, weil sie nicht mehr direkt über den Hausarzt verwiesen werden, ist aus Sicht von Katharina Fierz, Leiterin des Instituts für Pflege an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), unbegründet. «Pflegefachleute verfügen über die Kompetenz, entscheiden zu können, welche Interventionen notwendig sind und wo sie den Rat weiterer Gesundheitsfachleute – etwa Hausärzt­innen – brauchen», sagt die Expertin. Pflegende seien ausserdem verpflichtet, sich an die von den Sozialversicherungsgesetzen geforderten Vorgaben zu halten. Auch würde es, bedingt durch die demografische Entwicklung und das vermehrte Auftreten multipler chronischer Erkrankungen, so oder so zu einer Verteuerung im System kommen. «Die hat aber nichts mit der direkten Abrechnung durch Pflegende zu tun.»

Verschiedene Interessen

Eine einheitliche Lösung für alle zu finden, bleibt indes ein schwieriges Unterfangen, weil die einzelnen Interessensgruppen sich teils konträr gegenüberstehen. «Jeder denkt nur an seinen eigenen Bereich», sagt Humbel. Sie denkt dabei an die Pflegenden, die Ärzte, die Krankenkassen, die Institutionen. Vieles sei über die letzten Jahre im eigenen Gärtchen gewachsen. Das sieht auch der Think Tank Avenir Suisse so. Seine These: Viele Ressourcen werden nicht optimal ausgelastet – beispielsweise beim Pikettdienst oder auch bei Aus- und Weiterbildungen. Er fordert neue Modelle, damit sich Pflegepersonen vermehrt auf die medizinische Pflege und Angehörige auf Pflegehilfe konzentrieren können.