Ist eine alte Dame einfach vergesslich, oder wollte ein Nachbar sie ausnehmen «wie eine Weihnachtsgans»?

Ein 49-jähriger Algerier wird beschuldigt, aus der Wohnung seiner betagten Nachbarin an der Goldküste Antiquitäten, Teppiche und Silberbesteck geplündert zu haben. Der Beschuldigte sagt, die Frau habe ihm die Sachen geschenkt und leide an Demenz.

Tom Felber 3 min
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Die Vorgeschichte ist unbestritten: Ein 49-jähriger Algerier und eine heute 90-jährige Schweizerin waren Nachbarn in einem Haus in einer Zürcher Goldküstengemeinde. Der Algerier und seine Partnerin freundeten sich mit der alten Dame an. Sie feierten Weihnachten zusammen, machten Ausflüge, der Algerier, der in einem Restaurant arbeitet, brachte ihr regelmässig Essen mit.

Seine Partnerin begann für die Frau – auf deren Wunsch, wie alle Parteien bestätigen – alte Bücher und Bilder übers Internet zu verkaufen. Der Erlös von rund 8000 Franken dafür soll der alten Dame vollständig in bar übergeben worden sein. Die Rentnerin revanchierte sich, indem sie dem Paar 5000 Franken an deren Dubai-Ferien bezahlte. Im August 2020 trennte sich das Liebespaar allerdings. Der Algerier blieb allein als Nachbar zurück. Ab nun gibt es zwei Versionen der Geschichte.

Video-Überwachung angeordnet

Laut der Version des Staatsanwalts war dem Algerier bewusst geworden, dass mit den Antiquitäten und Einrichtungsgegenständen der Nachbarin Geld zu verdienen war. Er soll ihr den Schlüsselbund entwendet haben, damit regelmässig in ihre Wohnung eingedrungen sein und Wertgegenstände mitgenommen haben. Dabei soll er davon profitiert haben, dass die Frau ab Januar 2022 wegen eines Sturzes ins Spital musste und die Wohnung mehrere Monate leer stand.

Als die Frau im Sommer zurückkehrte, erstattete sie mithilfe einer Spitex-Mitarbeiterin Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft ordnete eine Video-Überwachung im Innern der Wohnung an. Auf den Aufnahmen ist zu sehen, wie der Algerier am 4. und 11. Juli in die Wohnung eindrang und diese in einem Fall mit einem Teppich wieder verliess. Auffallend war, dass er vor dem Verlassen jeweils durch den Türspion blickte, um – laut Staatsanwalt – zu sehen, ob die Luft rein war.

Der Algerier wurde am 11. Juli verhaftet und sass 19 Tage in Untersuchungshaft. In seiner Wohnung und seinem Keller wurde ein wahres Warenlager sichergestellt. Er räumte von Anfang an ein, dass die Gegenstände von der Nachbarin stammten: Silberbesteck, fünf Teppiche, unzählige Bilder und Bilderrahmen, Statuen, Standuhren, Öllampen, Messing- und Kupfertöpfe. In der Anklage ist von einem Wert von «mehreren zehntausend Franken» die Rede.

Staatsanwalt beantragt Landesverweis

Der Beschuldigte erzählt vor Bezirksgericht Meilen, die alte Dame sei wie eine Mutter für ihn gewesen. Sie habe ihm den Wohnungsschlüssel freiwillig gegeben, erinnere sich aber wohl nicht mehr daran. Sie habe ihm das Silberbesteck und die Teppiche explizit geschenkt und ihm gesagt, er könne die anderen Sachen nehmen, bevor sie noch in einem Brockenhaus landeten. Etwas in ihrem Kopf sei wohl nicht mehr gut.

Für den Staatsanwalt ist es der typische Goldküsten-Fall, bei dem eine wohlhabende Seniorin «wie eine Weihnachtsgans» ausgenommen werden sollte. Die Zahl solcher Fälle habe eindeutig zugenommen. Es wisse niemand, wie oft der Beschuldigte in der Wohnung gewesen sei und was genau fehle, «wir wissen nur, was wir gefunden haben». Er beantragt eine bedingte Freiheitsstrafe von 14 Monaten wegen gewerbsmässigen Diebstahls und Hausfriedensbruchs sowie einen Landesverweis von 6 Jahren.

Der Verteidiger plädiert auf Freispruch und 3800 Franken Entschädigung für zu Unrecht erlittene Haft. Die Frau habe wohl schlichtweg vergessen, dass sie dem Beschuldigten den Schlüsselbund gegeben und ihm die Sachen geschenkt habe. Auch bei einem Schuldspruch komme ein Landesverweis nicht infrage. Der Beschuldigte lebe seit 26 Jahren in der Schweiz, engagiere sich in einem Sportklub und als Tanzlehrer. Und auch sein Arbeitgeber halte nach wie vor zu ihm.

Das Urteil wird erst nächste Woche eröffnet.