Heime und Spitex erhalten Hunderte Millionen Franken zu wenig

Kantone und Gemeinden müssen die Pflegekosten übernehmen, die über die Beteiligung von Patienten und Krankenkassen hinausgehen. Doch das funktioniert oft nicht – zum Leidwesen der Heimbewohner.

Simon Hehli
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Die Kosten für die Alterspflege sind hoch – und manche Kantone wollen auf dem Buckel der Betagten sparen. (Bild: Adrian Baer / NZZ)

Die Kosten für die Alterspflege sind hoch – und manche Kantone wollen auf dem Buckel der Betagten sparen. (Bild: Adrian Baer / NZZ)

Das Bonmot, dass in der Schweiz alles von Kanton zu Kanton unterschiedlich sei, gilt speziell für die Finanzierung der Pflege gebrechlicher Menschen zu Hause und in Heimen. Seit 2011 gilt, dass drei Parteien die Pflegekosten gemeinsam berappen müssen. Krankenkassen und Patienten leisten Beiträge, die gedeckelt sind; was übrig bleibt – die sogenannten Restkosten –, soll die öffentliche Hand zahlen. Das Modell, das in der Theorie relativ simpel aussieht, provoziert in der Praxis grosse Probleme. Denn die Stände können selber festlegen, wie sie das Begleichen der Restkosten organisieren wollen. Manche sind dabei grosszügig, andere knausrig. Und so beklagen sich in manchen Kantonen die Pflegeheime, die Spitex oder selbständige Pflegefachleute, dass sie zu wenig Geld erhalten, um kostendeckend arbeiten zu können.

Die kürzlich vom Bundesamt für Gesundheit veröffentlichte Evaluation der Pflegefinanzierung zeigt: Nur Uri und Obwalden bezahlen den Pflegeheimen die effektiv angefallenen Restkosten. Fast alle anderen Kantone haben eine finanzielle Obergrenze pro Patient und Tag festgelegt. Die Logik hinter diesen Lösungen ist klar: Die Höchstbeträge sollen sicherstellen, dass die Leistungserbringer nicht einfach nach Belieben Leistungen generieren und in Rechnung stellen können – das hätte eine Explosion der Kosten zur Folge.

Knausrige Kantone

Preisüberwacher Stefan Meierhans ist jedoch der Meinung, dass ein Teil der Kantone den Spielraum zu stark ausnutze, indem die betreffenden Kantone die Restfinanzierung nicht sicherstellten. Manche Regierungen versuchen auf diesem Weg, aus den roten Zahlen herauszukommen. Das Problem ist weit verbreitet. Curaviva, der Verband der Heime und Institutionen, hat 2015 eine Umfrage bei 23 Kantonalverbänden gemacht. Dabei stellte sich heraus, dass nur in 10 Kantonen die Pflegekosten der Heimbewohner vollständig finanziert sind. Nicht der Fall ist dies aus Sicht der Heimbetreiber etwa in Zürich, Solothurn, Genf oder im Aargau. Der dortige Verband hat die Finanzierungslücke für das Jahr 2013 auf rund 30 Millionen Franken geschätzt.

Eine Auswertung der Statistik der sozialmedizinischen Institutionen (Somed) zeigt, dass die Ausgaben der öffentlichen Hand für die Restfinanzierung gesamtschweizerisch zwar stark ansteigen: von 990 Millionen Franken im Jahr 2012 auf 1,29 Milliarden im Jahr 2016, nicht eingerechnet sind direkte Subventionen für Leistungserbringer oder Defizitgarantien.

Ungedeckte Kosten von mehreren Hundert Millionen

Anteile an der Pflegefinanzierung in Millionen Franken
Total
Krankenkassen
Bewohner
öff. Hand
ungedeckt

Doch das reicht angesichts der steigenden Pflegekosten nicht, es besteht weiterhin eine Finanzierungslücke von mehr als 300 Millionen Franken. Das kann unschöne Konsequenzen haben: Manch ein Heim sieht sich laut dem Preisüberwacher veranlasst, die ungedeckten Pflegekosten – illegalerweise – auf die Patienten zu überwälzen und ihnen entsprechend höhere Rechnungen für die Betreuung oder die Hotellerie zu präsentieren. Meierhans fordert deshalb, dass alle Kantone die Finanzierungslücken schliessen.

Negativbeispiel Solothurn

Auch die Nonprofit-Spitex tut sich schwer damit, dass die Regeln in jedem Kanton oder sogar jeder Gemeinde unterschiedlich ausgestaltet sind, wie Patrick Imhof, Leiter Politik bei Spitex Schweiz, sagt. Eine Umfrage unter den Kantonalverbänden hat ergeben, dass die Situation betreffend Restfinanzierung zunehmend schwierig ist, sie scheint aber weniger gravierend zu sein als für die Heime. Einer der Gründe dafür könnte laut Imhof sein, dass speziell in der Westschweiz die Spitex-Organisationen gesetzlich verankert sind und deshalb von den Kantonen genügend Mittel erhalten. Die Nonprofit-Spitex profitiert zudem mancherorts davon, dass die Patienten keine oder nur eine tiefe Selbstbeteiligung zahlen müssen. Die Kantone wollen so erreichen, dass Pflegebedürftige länger in den eigenen vier Wänden bleiben.

Ein Kanton sticht laut Imhof aber negativ heraus: Solothurn hat erst im Mai dieses Jahres die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen, auch an Spitex-Organisationen die Restkosten zu bezahlen. Doch der Kantonsrat pocht darauf, dass die Patienten zusätzlich zur Selbstbeteiligung von täglich maximal 15.95 Franken auch eine Wegpauschale und einen Ausbildungsbeitrag bezahlen müssen – für Imhof steht dies im Widerspruch zum Willen des nationalen Parlaments, das die Patienten nicht stärker zur Kasse bitten wollte.

Unternehmerinnen haben es schwer

Unzufrieden mit der Umsetzung der neuen Pflegefinanzierung sind mehrere private Anbieter von Pflegedienstleistungen. So bekommen private Spitex-Organisationen in manchen Kantonen keine Restkosten, im Thurgau und in Glarus trifft dies auch für Pflegeheime ohne Leistungsvertrag zu. Einen schweren Stand haben oftmals auch die selbständig tätigen Pflegefachleute. So etwa in Genf: Laut Pierre-André Wagner vom Verband der Pflegefachleute anerkennt der Kanton nur jene Freiberuflichen, die in der Genossenschaft CSI organisiert sind – alle anderen gehen in Sachen Restkosten leer aus. Aus Sicht von Wagner sind die Entschädigungen für die Pflegeunternehmerinnen ohnehin fast überall zu tief. In Solothurn hat deshalb eine von ihnen eine Pilotklage eingereicht, der Prozess ist noch im Gang.

Zu Konflikten kann es auch zwischen Kantonen und Gemeinden kommen. In 19 Kantonen ist es der Kanton, der für die Regelung der Restfinanzierung zuständig ist, in 4 die Gemeinde und in 3 beide zusammen. Doch die Kosten ganz oder teilweise schultern müssen in 20 Kantonen die Gemeinden. Wie aus dem Evaluationsbericht hervorgeht, fühlen sich manche Gemeindevertreter von den Kantonen nicht genügend einbezogen.