Interview

Er begleitet Menschen in den Tod und sagt: «Im schlimmsten Fall haben sie Schmerzen, erbrechen – und niemand kann ihnen helfen»

Die medizinische Betreuung für Sterbende ist in der Schweiz lückenhaft. Jetzt versucht der Kanton Zürich den Befreiungsschlag. Der Palliativpionier Andreas Weber hat dazu eine klare Haltung.

Giorgio Scherrer 6 min
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Setzt sich für Menschen am Lebensende ein: der Palliativarzt Andreas Weber aus dem Zürcher Oberland.

Setzt sich für Menschen am Lebensende ein: der Palliativarzt Andreas Weber aus dem Zürcher Oberland.

Samuel Trümpy für NZZ

In Würde sterben: Das ist in der Schweiz für viele schwierig. Die Palliative Care – die medizinische Betreuung am Lebensende – ist lückenhaft und unterfinanziert. Und das, obwohl Studien und Berichte seit Jahren zeigen: Sie ermöglicht nicht nur oftmals einen Tod, wie die meisten ihn sich wünschen – ohne Schmerzen, im eigenen Bett –, sondern sie verhindert auch unnötige Spitaleinweisungen. Aus 20 in die Palliative Care investierten Millionen resultieren laut der Universität Bern Einsparungen bei den Spitalkosten in Höhe von 150 bis 450 Millionen Franken.

Jetzt will der Kanton Zürich die Versorgung am Lebensende ausbauen. Was das für Sterbende bedeutet, erklärt Andreas Weber, ein Pionier der Palliativmedizin und leitender Arzt am Spital Wetzikon.

Herr Weber, Sie betreuen jeden Tag Sterbende auf ihrem letzten Weg. Was wünschen sich diese Menschen?

Es sind immer zwei Dinge: Sie wollen nicht leiden. Und sie wollen ihre letzten Tage und Wochen in ihrem vertrauten Umfeld verbringen – zu Hause oder, wenn sie schon dort sind, im Pflegeheim. Sie wollen meist nicht ins Spital, in eine spezielle Station oder ein Hospiz. Sie wollen dort sterben, wo sie auch gelebt haben.

Und das will ja auch die moderne Palliative Care ermöglichen.

Genau. Das beginnt niederschwellig mit Spitex, Hausärzten und Angehörigen. Wenn es schwieriger wird, erfüllt dann vor allem die mobile Palliative Care dieses Ziel. Also die spezialisierte Betreuung zu Hause.

Jetzt schreibt die Zürcher Regierung aber, die flächendeckende Betreuung mit Palliative Care sei aktuell nicht sichergestellt. Was heisst das für die Patientinnen und Patienten?

Es bedeutet, dass viele nicht sterben können, wie und wo sie wollen. Eine Lücke gibt es im Kanton Zürich bei den Pflegeheimen. Dort mangelt es für die komplexen Fälle oft an Fachleuten und dem nötigen Wissen. Und für den Einsatz mobiler Palliative-Care-Einheiten fehlt fast überall die Finanzierung. Das Resultat sind unnötige Verlegungen ins Spital oder lebenserhaltende Massnahmen, die gar nicht gewünscht sind. Oder die schlechteste Variante: Die Patienten müssen in ihren letzten Stunden leiden, haben Schmerzen, erbrechen – und niemand kann ihnen helfen.

Wunsch und Realität klaffen beim Sterben weit auseinander

Sterbeorte bei Todesfällen in der Schweiz, in Prozent
Spital
Alters- und Pflegeheim
Andere Orte (zu Hause, Hospiz usw.)

Die Versorgung in Pflegeheimen will der Kanton nun verbessern. Ihre Palliativabteilung ist als eine von wenigen schon in Heimen aktiv. Funktioniert das?

Eindeutig, wir haben eine starke Entlastung des Spitals festgestellt – und gesehen, dass es dafür eigentlich gar nicht so viel braucht. In unserem Pilotprojekt mit den Heimen in Uster haben wir 60 Personen palliativ mitbetreut. Pro Person mussten wir vier bis sechs Stunden aufwenden. Das Heim konnte den Rest dank guter Schulung selbst stemmen. Das ist ein Erfolgsmodell.

Bis das Angebot im ganzen Kanton steht, wird es aber noch dauern. Im Gesundheitswesen fehle es an Sensibilisierung für die Bedürfnisse von Sterbenden, schreibt die Regierung.

Nicht nur dort. Wir hatten letzthin einen Kurs in einem Pflegeheim. Da lief eine Bewohnerin vorbei und sagte zu einer anderen: «Schau, ein Totengräberkurs!» Dabei geht es bei Palliative Care nicht nur ums Sterben, sondern vor allem um ein möglichst gutes Leben in der Zeit davor. Auch viele Fachleute haben das noch nicht begriffen. Die denken, es gehe nur darum, etwas Morphium zu geben.

Nun will der Kanton die Palliative Care flächendeckend ausbauen. Eine zentrale Neuerung: Palliativärzte aus Spitälern sollen Sterbende auch zu Hause betreuen. Wozu braucht es das?

In meinem Spital im Zürcher Oberland machen wir schon solche Hausbesuche, und zwar als Einzige im Kanton. Wir erleben jeden Tag, wozu es sie braucht. Ein Beispiel hatten wir gerade heute Morgen: Ein Patient liegt zu Hause, mit starker Atemnot, die Pflege vermutet Wasser in der Lunge. Der Arzt kommt mit dem Ultraschallgerät und punktiert vor Ort die Lunge. Zwei Liter Wasser kommen heraus, die Atemnot ist weg. Ohne diese Hilfe hätte der Patient von der Ambulanz in den Notfall gebracht werden müssen. Dort wäre er dann vermutlich bis zum Tod geblieben.

So will der Kanton die Palliative Care ausbauen

sgi. Mit rund 9,5 Millionen Franken will der Kanton Zürich die medizinische Betreuung am Lebensende verbessern. Das sind die wichtigsten Punkte:

Weiterbildungsoffensive: Mit spezifischen Schulungen will die Regierung die «fehlende Sensibilisierung und Fachkenntnis» in Gesundheitseinrichtungen – Heimen, Spitälern, Arztpraxen – bekämpfen.

Arztbesuche zu Hause: Spezialisierte Palliativärzte sollen die mobilen Pflegeteams rund um die Uhr unterstützen können. Dafür will die Gesundheitsdirektion einen Bereitschaftsdienst in den Spitälern einrichten. Dessen aktuelles Fehlen «schränkt die Qualität der Versorgung stark ein», wie es im entsprechenden Regierungsratsbeschluss heisst.

Palliative Care in Pflegeheimen: Dort besteht derzeit die grösste Finanzierungslücke. Mit einem dreijährigen Pilotprojekt will der Kanton die beste Lösung für dieses Problem ermitteln. Die begünstigten Gemeinden müssen sich hälftig an den Kosten beteiligen.

Bessere Betreuung für sterbenskranke Kinder: Das Zürcher Kinderspital soll sein diesbezügliches Angebot erweitern und Betroffene auch zu Hause besuchen und behandeln können.

Dass man das jetzt im ganzen Kanton ermöglichen will, finden Sie demnach sinnvoll?

Ich begrüsse es sehr, dass Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli die Palliative Care stärken will. Es entspricht einem echten Bedürfnis und wirkt einem echten Mangel entgegen, gerade bei der Versorgung zu Hause.

Aber?

Die grosse Frage, die ich mir stelle, ist jene nach der Umsetzung. Unsere Erfahrung ist: Ärzte, die aus Spitälern kommen, weisen Palliativpatienten oft zu schnell in den Notfall ein. Weil sie sich dort am besten auskennen, weil sie nicht wissen, was zu Hause alles möglich ist. Es ist aber zwingend, dass die Ärzte auch wirklich zu den Patienten nach Hause gehen. Dafür braucht es einen Mentalitätswandel, eine gute Ausbildung und eine ausreichende Finanzierung. Das würde sich langfristig rechnen, weil dieselbe Behandlung im Spital deutlich teurer ist. Nehmen wir die punktierte Lunge: Das kostet ambulant etwa 500 Franken, mit Ambulanz und Hospitalisierung sind wir schnell bei über 10 000 Franken.

Stichwort Kosten: 9,5 Millionen Franken sind für den Palliative-Care-Ausbau budgetiert. Kein unwesentlicher Betrag.

Spitalaufenthalte am Lebensende machen im Schnitt 10 bis 20 Prozent der Gesundheitskosten aus, die ein Mensch in seinem Leben verursacht. Und mit Palliative Care, das zeigen Studien, kann man die Hospitalisierungsrate am Lebensende fast halbieren. Das heisst: Das investierte Geld wird garantiert x-fach eingespart.

Reichen die Mittel denn für den nötigen Ausbau?

Es ist sicher nur eine Übergangslösung. Der Regierungsrat schreibt in seinem Beschluss selber, dass er sich vor allem für eine bessere Finanzierung auf nationaler Ebene starkmachen will. Langfristig sollte man das Problem dort lösen: bei den Krankenkassen, die momentan den Grossteil der Kosten für die Palliative Care zu Hause nicht übernehmen müssen.

Warum eigentlich nicht? Der medizinische und finanzielle Nutzen der Palliative Care ist doch hinlänglich belegt.

Alle finden unsere Arbeit gut und wichtig, aber mit Palliative Care wird man am Ende als Gesundheitseinrichtung nie viel Geld verdienen. Und weil das so ist, fehlt uns eine starke Lobby, die die Politik beeinflussen könnte. Kommt dazu: Die Menschen, die am meisten davon profitieren, können sich nicht mehr dafür einsetzen. Weil sie schon verstorben sind.

Über eine bessere Finanzierung der Palliative Care wird seit 20 Jahren diskutiert. Es gab schon unzählige Studien, Umfragen, Berichte und Vorstösse dazu. Alle zeigen in die gleiche Richtung, und doch heisst es beim Bundesamt für Gesundheit nach wie vor, man müsse noch mehr abklären, bevor man eine Lösung präsentieren könne. Ist das schon amtliche Arbeitsverweigerung?

Das kann man so sagen. Es fehlt der Wille, die medizinische Versorgung am Lebensende gut zu regeln. Ein Beispiel: Was wir den Leuten verabreichen, sind oft Spitalmedikamente, die dort auch problemlos bezahlt werden. Setzt man sie aber zu Hause ein, zahlt die Krankenkasse plötzlich nicht mehr. Seit mehr als einem Jahr versuchen wir, mit dem BAG und den Kassenverbänden dafür eine Lösung zu finden – vergeblich. Das sind Medikamente, die den Patienten ein würdevolles Sterben ermöglichen, und sie, oder ihre Angehörigen, müssen selbst dafür bezahlen. Nur weil sie zu Hause sterben wollten statt auf der Intensivstation.