Besser ausgebildetes Pflegepersonal rettet Leben und spart Hunderte Millionen Franken

Die Krankenkassen warnen davor, dass die Pflegeinitiative das Gesundheitswesen Milliarden kosten würde. Nun kontert die Lobbyorganisation der Pflegefachleute – und streicht den Nutzen einer Qualitätsoffensive heraus.

Simon Hehli
Drucken
Um die Lohnkosten des Pflegepersonals tobt ein heftiger Streit.

Um die Lohnkosten des Pflegepersonals tobt ein heftiger Streit.

Annick Ramp / NZZ

Die Krankenkassen malen den Teufel an die Wand: Ihr Verband Santésuisse warnt davor, dass die Pflegeinitiative zu einem der teuersten Volksbegehren aller Zeiten werden könnte. Denn die Besserstellung des Pflegeberufs, den die Initiantinnen anstreben, soll auch über das Salär erfolgen. Gehaltserhöhungen würden laut Santésuisse bis zu 20 Prozent betragen. Weil die Babyboomer in ein Alter kommen, in dem sie pflegebedürftig werden, steigt darüber hinaus der Bedarf an Pflegepersonal in der Schweiz bis 2030 deutlich.

Die beiden Entwicklungen sollen kombiniert zu happigen Mehrkosten von 3,5 Milliarden Franken pro Jahr führen. Yvonne Ribi ist Geschäftsführerin des Verbandes der Pflegefachleute (SBK), der die Initiative lanciert hat. Sie tut die Berechnungen von Santésuisse als «populistische, unseriöse Schätzungen» ab. Und ihr Verband kontert mit eigenen Zahlen, um die Notwendigkeit seines Volksbegehrens zu unterstreichen.

Wenn die Schweiz mehr qualifiziertes Pflegepersonal ausbilde, werde dies natürlich zu höheren Lohnkosten führen, räumt Ribi ein. «Aber es steigt auch die medizinische Qualität, und dadurch können wir gesamthaft gesehen Kosten sparen.» Es geht letztlich um die Frage, wie die Teams der Pflegenden in Spitälern, Heimen und bei der Spitex zusammengesetzt sind. Die Equipen bestehen üblicherweise aus Pflegefachpersonen mit tertiärem Abschluss, Fachleuten Gesundheit (FaGe) oder Betreuung (FaBe) mit sekundärem Abschluss sowie Pflegeassistenten.

Hochqualifizierte retten Leben

Diese Zusammensetzung unterscheidet sich von Institution zu Institution. Und das hat Konsequenzen, wie der Pflegewissenschafter Michael Simon von der Uni Basel und der Berner Ökonom Michael Gerfin in einer neuen Studie im Auftrag des SBK aufzeigen. Die beiden Forscher haben dafür die Zahlen des Bundesamtes für Statistik zu 135 Akutspitälern und 1,2 Millionen Patienten analysiert. Ihr Befund: Beträgt der Anteil der diplomierten Pflegefachleute im Team weniger als 75 Prozent und mangelt es auch an FaGe, steigt das Sterberisiko um 2 Prozent. Das wären auf die Schweiz hochgerechnet 243 Todesfälle pro Jahr. Ohne genügend Fachpersonal steigt laut der Studie auch das Risiko, dass Patienten akute Stoffwechselstörungen erleiden. Und die Liegedauer nimmt zu. Simon und Gerfin schreiben von jährlich über 200 000 Pflegetagen im Spital, die derzeit vermeidbar wären. Kosten: 357 Millionen Franken.

Eine kürzlich veröffentlichte Auswertung der Uni Basel kommt zu dem Schluss, dass 42 Prozent der Spitaleinweisungen von Pflegeheimbewohnern vermeidbar seien. Dies, wenn in den Heimen mehr qualifiziertes Personal zum Einsatz käme. Damit liessen sich Kosten von jährlich 100 Millionen Franken einsparen. Der Pflegewissenschafter Simon geht noch einen Schritt weiter: Er schätzt, dass das Sparpotenzial bei Seniorinnen, die noch zu Hause leben, sogar 1,5 Milliarden Franken beträgt. Mit einem Ausbau der Spitexleistungen, wofür es auch die entsprechenden Fachleute braucht, könnte es gelingen, dass es gar nicht erst zu den teuren Spitalaufenthalten kommt.

Unter dem Strich schätzt der Verband der Pflegefachleute das Sparpotenzial durch den Einsatz von mehr qualifiziertem Personal auf fast 2 Milliarden Franken jährlich. «Diese Zahlen müssen in die politischen Diskussionen einfliessen, wenn über Kostendämpfungsmassnahmen, Patientensicherheit und die Pflegeinitiative debattiert wird», sagt Yvonne Ribi. Sie sagt dies auch an die Adresse der ständerätlichen Gesundheitspolitiker, die am Dienstag über einen Gegenvorschlag zur Pflegeinitiative beraten, der – je nach Ausgestaltung – die Initiantinnen zu einem Rückzug ihres Volksbegehrens motivieren könnte.

Doch selbst mit diesen Einsparungen von 2 Milliarden Franken blieben Mehrkosten von mindestens 1,5 Milliarden – falls Santésuisse recht hat. Die SBK-Geschäftsführerin Ribi hält das für unplausibel. Heute beträgt der Anteil der diplomierten Pflegefachleute an Spitälern rund 70 Prozent. Basierend auf den Empfehlungen des Forschers Simon fordert der SBK, dieser Anteil solle auf 80 Prozent steigen. Dies ergäbe laut verbandseigenen Schätzungen Mehrausgaben von rund 70 Millionen. Eine Erhöhung der Zahl der qualifizierten Pflegestunden um 5 Prozent würde zusätzlich 245 Millionen Franken kosten.

Mehr Zeit für die Patienten

Die Aufstockung des Anteils der Fachpersonen in Pflegeheimen ebenfalls um 10 Prozentpunkte – von heute 40 auf 50 Prozent – würde laut SBK mit jährlich 50 Millionen Franken zu Buche schlagen. Zusammengerechnet wären dies Mehrkosten von 365 Millionen Franken. Allfällige Lohnerhöhungen sind darin allerdings nicht enthalten. Doch dass jede Pflegende im Schnitt plötzlich 20 000 Franken mehr verdienen würde, wie das Santésuisse annimmt, ist ein ziemlich unrealistisches Szenario. Und es gehe den Pflegenden auch nicht in erster Linie ums Geld, betont Ribi: «Sie wollen vor allem bessere Rahmenbedingungen für ihren Job – etwa dass sie mehr Zeit haben, sich um die Patientinnen und Patienten zu kümmern.»