Interview

«Palliative Care ist ein Grundauftrag der Kirche»

Der Bundesrat will die Palliative Care fördern. Er hat dafür eine Reihe von Massnahmen vorgeschlagen. Ein Steilpass an die Kirchen, findet die Theologin und Spezialseelsorgerin Renata Aebi.

In der Spiritual Care wird auch das Pflegepersonal geschult, spirituelle Bedürfnisse von Patienten am Lebensende wahrzunehmen. (Bild: Keystone/Christian Beutler)

Noch immer haben nicht alle Menschen in der Schweiz Zugang zur Palliative Care, zur angemessenen Betreuung und Behandlung am Lebensende. Das zeigt ein Bericht des Bundesrats. Demnach hängen die Behandlungsmöglichkeiten stark vom Wohnort ab. Zudem wird das Gesundheitssystem in dieser Hinsicht immer stärker gefordert: Weil der Anteil der hochaltrigen Bevölkerung wächst, werden auch immer mehr Menschen pflegebedürftig werden und schliesslich sterben.

Dementsprechend wird auch das Bedürfnis nach Palliative Care zunehmen. Deshalb schlägt der Bundesrat verschiedene Massnahmen vor, um sie zu stärken und besser ins Gesundheitswesen zu integrieren. Beispielsweise will er die Palliative Care bekannter machen sowie den Zugang zu entsprechenden Angeboten erleichtern.

Was ist Spiritual Care?

Spiritual Care oder auch spirituelle Begleitung etabliert sich international zunehmend in der Gesundheitsversorgung. Hintergrund ist ein verändertes Verständnis, das Spiritualität als Teil von Gesundheit versteht.

Das Konzept der Spiritual Care will Spiritualität und Religiosität verstärkt in die Behandlung einbeziehen und versteht dies als gemeinsame Aufgabe von Gesundheitsberufen und der Seelsorge. Seelsorge ist dabei die spezialisierte Fachdisziplin für Spiritual Care und spielt somit eine zentrale Rolle in der Betreuung. Sie unterstützt Patienten und Angehörige durch das Angebot von Gespräch, Begleitung und Ritualen und sensibilisiert Gesundheitsfachleute in spirituellen Fragen. (mos)

Diese Ankündigung betrifft auch die Kirchen. Denn sie sind in der Palliative Care engagiert, vor allem in der sogenannten Spiritual Care (siehe Kasten). Renata Aebi befasst sich als Spezialseelsorgerin mit diesem Thema.

Frau Aebi, was sagen Sie zum Massnahmenpaket des Bundes?
Ich begrüsse die Offensive natürlich sehr. In der Schweiz gibt es einen Aufholbedarf in Sachen Palliative Care, sie ist noch nicht flächendeckend ausgebaut. Das gilt auch für die Kirchen. Die Seelsorge in Spitälern, Kliniken und Heimen oder in der ambulanten Palliative Care, also zum Beispiel der Spitex, ist gesamtschweizerisch sehr unterschiedlich aufgestellt.

Was bedeutet diese Offensive des Bundes nun also für die Kirchen?
Ich sehe sie als Steilpass, jetzt auf diesen Zug aufzuspringen. Denn Palliative Care ist ganzheitlich, also gehört auch die spirituelle Begleitung zur Versorgung dazu. In diesem Feld müssen die Kirchen ihre Seelsorge-Kompetenzen profiliert einbringen und mit Gesundheitsexperten zusammenarbeiten.

Warum sind denn die Palliative Care und die Spiritual Care so wichtige Felder für die Kirche?
Wegen der demographischen Entwicklung gibt es immer mehr hochaltrige Menschen. Viele leiden an verschiedenen Krankheiten, sind häufig auch von Demenz betroffen. Diese sehr verletzlichen Menschen bilden die grösste Gruppe von Palliativpatienten. Es gehört zum diakonischen Grundauftrag der Kirchen, sich gerade um sie zu kümmern. Das Thema Spiritualität und spirituelle Begleitung gehört inzwischen in die Grundausbildung vieler Gesundheitsberufe, viele Fachleute bilden sich in Spiritual Care weiter. Somit fragt sich, ob die Kirchen dieses Feld den Gesundheitsprofessionen überlassen wollen oder es mit diesen zusammen mitgestalten und mitprägen.

«Forschungen belegen, dass Spiritualität in Krisensituationen die Lebensqualität verbessern kann.»

Was ist der Nutzen der Spiritual Care?
Durch Spiritual Care erhalten Menschen Raum und Zeit, um ihre spirituellen Bedürfnisse zu thematisieren. Darin werden sie unterstützt und begleitet. Breite Forschungen belegen, dass Spiritualität in Krisensituationen und gerade am Lebensende eine zentrale Ressource sein und Lebensqualität verbessern kann.

Wie meinen Sie das?
Pflegefachpersonen werden sensibilisiert, bei Patienten und Bewohnern wahrzunehmen, ob ein spiritueller Bedarf da ist. Ob sich eine Person beispielsweise mit Sinn- oder Identitätsfragen beschäftigt. Ob sie mit dem Schicksal hadert oder traurig ist, ob sie mit Einsamkeit kämpft oder Angst hat. Wenn die Spiritual Care in die Betreuung integriert ist, können Pflegende und Seelsorgende sich darüber absprechen. Die Seelsorgenden können solche Fragen dann mit den Menschen vertiefen. Das ist ihre Kernkompetenz. Und ihre Erkenntnisse fliessen dann auch wieder in den Pflegealltag zurück. Vielleicht tut einer Person Musik gut, ein Gespräch, ein Spaziergang oder religiöse Rituale. Das sind Ressourcen, die auch in der Pflege nützlich sind.

«Das Gesundheitspersonal muss ein Verständnis dafür haben, wie Seelsorge arbeitet.»

Was braucht es, damit die Zusammenarbeit zwischen Gesundheitspersonal und Seelsorgenden funktioniert?
Dazu muss die Seelsorge gut in die Gesundheitsstrukturen integriert und wirklich ein Teil davon sein. Die Zusammenarbeit zwischen Pflegepersonal und Seelsorgenden muss institutionalisiert und strukturell verankert sein. Das Gesundheitspersonal muss ein Verständnis dafür haben, wie Seelsorge arbeitet.

Renata Aebi

Die Theologin arbeitet einerseits ganz praktisch in der Palliative Care, als Spitalseelsorgerin am Kantonsspital Graubünden. Andererseits beschäftigt sie sich als Projektmitarbeiterin Spezialseesorge und Palliative Care bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn auch auf theoretischer Ebene mit dem Thema. Zudem ist sie bei palliative.ch Co-Leiterin der Fachgruppe Seelsorge. (mos)

Macht die Kirche in diesem Feld noch zu wenig?
Die Kirche leistet jetzt schon sehr wertvolle Arbeit in Spitälern, Kliniken, Heimen und Hospizen, aber auch in der ambulanten Versorgung. Und es gibt in vielen Kantonalkirchen und Bistümern Fachpersonen, die sich dem Thema annehmen. Aber ich sehe eine Herausforderung darin, dass wirklich ein verlässliches, flächendeckendes und zugängliches seelsorgliches Angebot aufgebaut wird. Und gegenüber den Institutionen und Trägern der Gesundheitsversorgung müssen wir aufzeigen können, wie Seelsorge arbeitet, und die Qualität dieser Arbeit beschreiben können. Es braucht aus meiner Sicht ein neues Verständnis und eine Neuprofilierung von Seelsorge im Gesundheitswesen: Seelsorge als Gesundheitsprofession.