Fünfjahres-Bilanz zeigt: Luzerner Pflege ächzt unter der Ausbildungspflicht

Heime und Spitex-Organisation müssen im Kanton Luzern eine festgelegte Anzahl Lehrlinge aufweisen. Das Bonus-Malus-System steht massiv in der Kritik.

Evelyne Fischer
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Um den Mangel an Pflegefachkräften zu entschärfen, hat der Kanton Luzern eine Ausbildungspflicht eingeführt. Die entsprechenden Paragrafen traten 2014 in Kraft, per 2015 wurden sie in die Praxis umgesetzt. Heime und Spitex-Organisationen, welche die festgelegte Zahl an Lehrstellen übertreffen, werden seither finanziell belohnt. Wer das Soll nicht erreicht, wird bestraft. Die Ansätze bewegen sich – abhängig von der jeweiligen Ausbildungsstufe – zwischen 4000 (Assistent Gesundheit und Soziales) und 12000 Franken (Pflegefachfrau HF).

Nina Zwimpfer macht bei der Spitex Neuenkirch eine Ausbildung als Fachfrau Gesundheit.

Nina Zwimpfer macht bei der Spitex Neuenkirch eine Ausbildung als Fachfrau Gesundheit.

Bild: Pius Amrein, 26. November 2019

Bis 2020 müssten die Pflegeheime gemäss entsprechenden Vorgaben insgesamt 394 Plätze anbieten, bei der Spitex sind es 174. Bei der Einführung des sogenannten Bonus-Malus-Systems galt es, die Ausbildungsziele zunächst zu 50 Prozent zu erreichen, später lag die Erfüllungspflicht bei 75 Prozent. Ab dem nächsten Jahr verlangt der Kanton eine vollumfängliche Umsetzung. Wie die Fünf-Jahres-Bilanz zeigt, ist dies allerdings alles andere als realistisch.

Bonus-Malus-System: Bericht folgt im Frühling

Eine positive Bilanz zieht die verantwortliche kantonale Kommission zur Förderung der Ausbildung in der Langzeitpflege. «Seit der Einführung des Bonus-Malus-Systems ist die Anzahl der Ausbildungsplätze gestiegen», sagt Präsidentin Michaela Tschuor. «Die Entwicklung ist grundsätzlich erfreulich.» Weil die sogenannte Babyboomer-Generation in den nächsten Jahren in den Ruhestand trete und die Zahl «hochaltriger Menschen» zunehme, brauche es aber dringend noch mehr Pflegenachwuchs.

Eine detaillierte Übersicht über die belohnten und bestraften Institutionen der letzten Jahre ist von der Kommission aktuell nicht zu erhalten. Grund: «Wir stecken im Evaluationsprozess und wollen diesen bis Ende März 2020 abgeschlossen haben», sagt Tschuor, Gemeindepräsidentin von Wikon. Gemäss Gesundheitsdirektor Guido Graf (CVP) werden im Verlauf des kommenden Jahres «Vorschläge zur Optimierung des Luzerner Modells» vorgelegt.

Kommission will Handel mit Ausbildungspunkten prüfen

Hinterfragt wird laut Michaela Tschuor etwa die Höhe der Bonus- und Malus-Zahlungen. Man prüfe auch, ob ambulante und stationäre Pflege stärker zusammenarbeiten könnten. «Die Verbände gelangen immer wieder mit dem Wunsch an uns, die Ausbildungen institutionsübergreifend anzubieten. Dass hier also Heime, Spitex-Organisationen und Spitäler zusammenspannen würden.»

Weiter wird sich die Kommission auch rechtsvergleichend mit der Frage des Handels von Ausbildungspunkten auseinandersetzen. Solche Systeme kennen die Kantone Aargau, Bern, Zürich und Solothurn. Betriebe wie Heime, die mehr Pflegenachwuchs generieren als nötig, können mit Punkten handeln. Das kommt jenen zu Gute, die Mühe haben, ihre Ausbildungsziele zu erreichen – etwa Spitex-Organisationen.

Marcel Durst, Geschäftsführer der Association Spitex privée Suisse, weibelt schon seit Jahren für diese Lösung. «Über ein finanzielles Engagement in einem marktähnlichen System werden sinnvolle und zielführende Anreize geschaffen.» Auch Curaviva würde den Handel mit Ausbildungspunkten begrüssen. Der Spitex-Kantonalverband wartet die Überprüfung der Kommission ab und wird allfällige Anpassungen gerne im Detail prüfen. 

Spitex: Hohe Bussen sind vorprogrammiert

Am meisten hadern ambulante Dienste. Jim Wolanin, Präsident des Kantonalverbands der gemeinnützigen Spitex, sagt: «Zwar konnten die Luzerner Spitex-Organisationen ihre Ausbildungsquote klar steigern. Sie stossen aber an ihre Grenzen, der Anteil an Lehrstellen lässt sich nur noch schwerlich erhöhen. Wir rechnen daher mit deutlich höheren Maluszahlungen.» 2014 boten 16 von 30 Non-Profit-Spitex-Organisationen 65 Ausbildungsplätze an, 2019 waren es 19 von insgesamt 27 Betrieben mit 106 Lehrstellen.

Die Spitex sei im Vergleich mit der stationären Pflege «klar im Nachteil», sagt Wolanin, Sozialvorsteher von Neuenkirch und FDP-Kantonsrat.

«Pflegeheime können mit einem wesentlichen geringeren Aufwand ausbilden.»

Ein Beispiel: Muss ein Lehrling in einem Heim eine Insulinspritze verabreichen, kann er für die Aufsicht schnell jemanden im Stationszimmer holen. «Bei der Spitex müssen für die gleiche Verrichtung zwei Personen teils eine lange An- und Rückreise vornehmen. Für die gleiche Lernsituation ist der Aufwand viel höher», sagt Wolanin. Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Heim und Spitex seien bei den Bonus/Malus-Ansätzen zwar berücksichtigt, «der Mehraufwand wird aber nicht vollumfänglich abgegolten». Ein weiteres Problem seien die Anfahrtswege, so Wolanin. Beispielsweise seien angehende Fachangestellte Gesundheit meist noch zu jung, um Autofahren zu dürfen.

«Die Möglichkeit, Lernende gut auszubilden und auch auszulasten, ist bei der Spitex begrenzt.»

Bonus-Ansprüche können nicht gedeckt werden

Unzufrieden sind auch die privaten Spitex-Organisationen. 2014 zählten die damals 23 Betriebe 11 Ausbildungsplätze, 2019 verteilten sich 35 Lehrstellen auf 24 Organisationen. «Das Bonus-/Malus-System setzt aus unserer Sicht nicht die notwendigen Impulse und erreicht seine Ziele nicht», sagt Marcel Durst, Geschäftsführer der Association Spitex privée Suisse.

«Obwohl die Malus-Zahlungen bereits hoch ausfallen, decken sie nicht alle Bonus-Ansprüche. Also sind letztlich alle unzufrieden, die Bestraften und die Belohnten. Eine Anpassung drängt sich auf.»

Noch deutlicher wird Roger Wicki, Präsident von Curaviva, dem Kantonalverband der Pflegeheime. «Die Malus- und Bonuszahlungen stehen in keinem Verhältnis.» So konnten im Jahr 2018 bei den Heimen beispielsweise lediglich rund 7400 Franken aus Malus-Zahlungen verteilt werden, die Bonus-Ansprüche beliefen sich aber auf 1,98 Millionen Franken (siehe Tabelle).

Gesundheitsdirektor Guido Graf ist dennoch vom Nutzen der Ausbildungsverpflichtung überzeugt. Es liege im Interesse «der ambulanten und stationären Leistungserbringer, ausreichend qualifiziertes Personal auszubilden. Ein finanzielles Anreizsystem wie die Ausbildungsverpflichtung und deren Höhe kann somit nicht die Kernmotivation darstellen.»

Der Curaviva-Vorstand wurde von seinen Mitgliedern beauftragt, beim Regierungsrat eine Sistierung der Ausbildungsverpflichtung für die Langzeitpflege zu erwirken. «Der Gesundheitsdirektor hat diese Anfrage allerdings negativ beantwortet, weil die Langzeitbranche im Bereich der Höheren Fachschule noch Steigerungspotenzial hat und aufgrund von neuen Zahlen des Bundes bereits von einem höheren Bedarf auszugehen ist», sagt Wicki. Dies bestätigt Guido Graf. Das Ausbildungssoll werde auf der Basis des Nationalen Versorgungsberichts für Gesundheitsberufe berechnet.

«Die Betriebe wurden bereits informiert, dass das Soll zukünftig erhöht werden muss.»

Beim Pflegefachpersonal ist der Mangel am grössten

2014 verteilten sich auf 63 Luzerner Heime 546 Lehrstellen, 2018 waren es 644 Ausbildungsplätze in 66 Heimen. Wicki, Geschäftsleiter des Seeblick Sursee, sagt: «Es ist schwierig abzuschätzen, wie viele Lehrstellen es heute ohne Bonus-Malus-System gäbe. Die Ausbildungsverpflichtung hat die bereits hohe Sensibilität der Pflegeheime aber sicher noch erhöht.» Mit Blick auf die vollumfängliche Umsetzung der Vorgaben sieht Wicki Handlungsbedarf bei den Pflegefachpersonen auf Tertiärstufe:

«Nur knapp die Hälfte aller Heime bilden Fachkräfte auf diesem Niveau aus. Diese Quote muss künftig steigen.»

Abhilfe soll das neue Bildungszentrum Xund in Luzern schaffen, das zig Gesundheitsberufe unter einem Dach vereint. «Viermal jährlich können Interessierte mit der Ausbildung als Pflegefachperson HF starten», sagt Wicki. «Zudem setzt Xund auf die maximale Verschränkung von Theorie und Praxis sowie den verschiedenen Arbeitsfeldern Spital, Spitex und Langzeitpflege.»

Jim Wolanin vom Spitex-Kantonalverband mahnt allerdings, keine Wunder zu erwarten. Zumal der Mangel an Pflegefachpersonen auch dem Salär geschuldet sei.

«Ältere Angestellte mit eigenem Haushalt verzichten auf die Ausbildung, weil sie mit dem Studienlohn von 1200 bis 1500 Franken ihren Lebensunterhalt schlichtweg nicht bestreiten können.»

Zudem sagt Wolanin: «Es ist nicht nur wichtig, genügend Personal auszubilden, sondern dieses auch langfristig im Arbeitsfeld zu halten.» Es brauche mehr Information über Entwicklungsmöglichkeiten sowie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Marcel Durst als Vertreter der privaten Spitex-Organisationen wünscht sich eine Analyse über die «Wanderung» des Pflegefachpersonals. «Wenn man weiss, wieso dieses von der Langzeitpflege in die Spitäler abwandert und wie gross das Ausmass dieser Bewegung ist, könnte man auch allfällige Lenkungs- und Förderungsmassnahmen schaffen und verbessern.»