Wocheninterview | 12. April 2020
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«Diese Situation haben wir wohl alle noch nie erlebt»

Zu Hause bleiben, soziale Kontakte meiden, in Kurzarbeit gehen: Für die Spitex Oberhasli Oberer Brienzersee kommt all das nicht infrage. Trotz Corona-Virus brauchen Menschen Pflege, besonders aus der Risikogruppe. Das Pflegepersonal sei einem grossen Druck ausgesetzt, sagt Geschäftsführerin Corinne Banholzer im Interview. Die Mitarbeitenden würden aber standhalten und starkes Pflichtbewusstsein an den Tag legen.
von Jocelyne Page
Corinne Banholzer ist die Geschäftsführerin der Spitex Oberhasli Oberer Brienzersee. Zurzeit steht die Organisation vor grossen Herausforderungen.
Corinne Banholzer ist die Geschäftsführerin der Spitex Oberhasli Oberer Brienzersee. Zurzeit steht die Organisation vor grossen Herausforderungen.Fotos: Jocelyne Page
Plötzlich ist das Corona-Virus auch in der Schweiz angekommen. Das öffentliche Leben hat der Bund lahmgelegt. Die medizinischen Organisationen leisten seither enorme Arbeit, auch Sie und Ihre Mitarbeitenden der Spitex Oberhasli Oberer Brienzersee. Wie haben Sie reagiert, als der Bundesrat die verschärften Massnahmen erklärt hat?

Corinne Banholzer: Wir hatten schon für die Schweinegrippe eine Pandemieplanung, die wir auch für die heutige Situation übernehmen konnten. Der Kanton hat ebenfalls einen Influenza-Pandemieplan herausgegeben, die wir in unser Konzept übernommen haben. (Anm. d. Red.: Vor ihr auf dem Tisch liegt ein dicker Ordner mit der Anschrift «Covid-19», unzählige Unterlagen sind darin enthalten.) Tag für Tag haben sich unsere Mitarbeitenden hineingelebt, mit den neuen, strengeren Hygienemassnahmen zu arbeiten. Wir waren früh mit dem Virus konfrontiert, weil eine Mitarbeiterin Mitte März erkrankt ist. Zwei Personen aus der Risikogruppe bleiben zudem zu Hause.

Wir müssen uns immer an die höchsten hygienischen Standards halten, egal ob eine Pandemie vorliegt oder nicht

Corinne Banholzer Geschäftsführerin der Spitex Oberhasli Oberer Brienzersee

Hat sich die Arbeitsweise Ihrer Spitex stark verändert?

Wir müssen uns immer an die höchsten hygienischen Standards halten, egal ob eine Pandemie vorliegt oder nicht. Aber die Schutzmassnahmen mussten wir intensivieren, seit März arbeiten wir nur noch mit Schutzmasken. Auch die interne Organisation mussten wir umstrukturieren. Unsere Spitex ist in zwei Teams unterteilt – in die Stützpunkte Meiringen-Innertkirchen und Brienz-Hasliberg. Zum einen treten die Mitarbeitenden gestaffelt ihren Arbeitstag an, zum anderen haben die zwei Teams untereinander keinen persönlichen Austausch mehr. Dafür mussten wir zwei getrennte Materiallager einrichten. Sollte das eine Team mit Covid-19 infiziert werden, haben wir immer noch ein voll einsatzfähiges bereit.

Können Sie das aktuelle Arbeitspensum gut bewältigen?

Zurzeit können wir alles gut abdecken. Wir haben insgesamt 54 Mitarbeitende, davon sind 31 Vollzeitstellen. Neben den zwei Personen aus der Risikogruppe und der erkrankten Angestellten sind alle im Einsatz. Wir bereiten uns täglich auf den Tag vor, sollte die Corona-Welle unsere Region erreichen. Wir haben bereits mit Mitarbeitenden über eine mögliche Pensumerhöhung gesprochen. Zusätzlich haben wir fünf Lernende als Fachfrau Gesundheit, denen die Berufsschule zurzeit ausfällt und wir nebst der Lernbegleitung mehr einsetzen können. Dies natürlich ihren Kompetenzen entsprechend und mit guter Begleitung.

Corinne Banholzer hat einen Ordner voll mit Konzepten, Strategien und Planungen, alles nur für das grassierende Corona-Virus.
Corinne Banholzer hat einen Ordner voll mit Konzepten, Strategien und Planungen, alles nur für das grassierende Corona-Virus.
Wie ist die Stimmung unter den Angestellten?

Ich nehme eine sehr gute Stimmung unter den Mitarbeitenden war, alle sind durchaus positiv eingestellt. Sie arbeiten gerne, sind engagiert und motiviert. Ein starker Zusammenhalt ist spürbar.

Hat die aktuelle Situation den Teamgeist also gefördert?

Genau, sie tragen die gesamte Organisation mit. Es zeigt mir, dass sich unsere Mitarbeitenden mit der Spitex identifizieren. Als sie von der Viruserkrankung ihrer Kollegin erfahren haben, kam eine gewisse Verunsicherung auf. Ich bemerkte, dass auf ihnen ein grosser Druck lastete, weil sie Angst hatten, den Erreger hinaustragen zu können. Ihr Pflichtbewusstsein ist stark und das Wohl ihrer Klienten steht für sie über allem. Denn die Klienten gehören zum grössten Teil der Risikogruppe an. Ein Teil des Personals war Anfang Jahr noch von der saisonalen Grippe erfasst worden. Irgendwann kam ein Übergang. Die Mitarbeitenden waren sich nicht sicher, ob ein leichtes Kratzen im Hals und eine laufende Nase nun eine Erkältung oder das Corona-Virus war.

Ich bemerkte, dass auf ihnen ein grosser Druck lastete, weil sie Angst hatten, den Erreger hinaustragen zu können

Corinne Banholzer Geschäftsführerin der Spitex Oberhasli Oberer Brienzersee

Was haben Sie dagegen unternommen, um Gewissheit zu erlangen?

Erst einmal habe ich alle angewiesen, nur noch mit mir Kontakt aufzunehmen, sollten sie grippeähnliche Symptome haben. Somit war ich direkt informiert und konnte den Überblick behalten. In einem zweiten Schritt habe ich jede Person auf das Virus testen lassen, die eine Infektion vermutet hat. Innert 24 Stunden lag das Ergebnis vor und sie waren wieder einsatzbereit. Denn zum Glück sind alle Tests negativ ausgefallen. Dies war eine grosse Erleichterung. Wir arbeiten eng mit den Hausärzten und den Spitälern der FMI AG zusammen, die uns schnell und unkompliziert unsere Pflegepersonen untersucht haben.

Wie haben Ihre Klienten auf die aktuelle Pandemie reagiert?

Wir haben unsere Mitarbeitenden direkt gebrieft. Mit den entsprechenden Informationen haben sie die Klienten vor Ort über die neuen Massnahmen und die aktuelle Lage informiert und mit ihnen das Gespräch gesucht. Sie haben ihnen auch geraten, die Einkäufe und Botengänge nicht mehr selber auszuführen. Zusätzlich haben sie die Klienten darauf sensibilisiert, regelmässig die Hände zu waschen, um dem Virus entgegenzuwirken. Die Verunsicherung war bei den Klienten bestimmt da, die Spitex-Fachpersonen könnten den Virus ins Haus tragen. Bis heute haben wir aber keinen einzigen Klienten, der an Covid-19 erkrankt ist und unsere Pflege benötigt.

Das Vertrauen in das Spitex-Personal ging also nie verloren?

Durch das persönliche Gespräch konnten wir viel dazu beitragen, dass dies nicht geschieht. Die Klienten haben wohl auch an unserer veränderten Arbeitsweise bemerkt, dass wir die aktuelle Lage sehr ernst nehmen. Die Hygienemassnahmen haben wir verschärft und sie werden strikt eingehalten. Einzig im Widerspruch zum Social Distancing kommen wir bei der Pflege den Personen sehr nahe: Die Mitarbeitenden können pflegerische Tätigkeiten nicht mit zwei Metern Abstand durchführen. Dafür gibt es die zusätzlichen Schutzmassnahmen für das Gesundheitsfachpersonal.

Wie werden Sie vorgehen, wenn ein Klient eines Tages mit dem Virus infiziert worden ist?

Es wird ein spezifisches Pflegeteam geben, dass sich nur noch um Covid-19-Klienten kümmern wird. Das Schwierige an dieser Krise ist die ständig ändernde Sach- und Informationslage. Immer wieder erhalten wir neue Massnahmen und Vorschriften, die wir einhalten und somit in unseren Plänen anpassen müssen. Die letzten drei bis vier Wochen waren für mich sehr arbeitsintensiv. Alleine das Sichten, Durchlesen und am Ende noch Umsetzen all der Empfehlungen vom Bundesamt für Gesundheit, dem Kanton und den Berufsorganisationen hat mich viel Zeit und Energie gekostet.

Ich fühle mich sehr sicher und auch getragen von so vielen verschiedenen Personen

Corinne Banholzer Geschäftsführerin der Spitex Oberhasli Oberer Brienzersee

Sollte es eines Tages doch zu personellen Engpässen kommen, trotz der Pensumerhöhung einzelner, haben Sie eine weitere Möglichkeit, die Arbeit zu bewältigen?

Wir haben eine Triageplanung gemacht, bei der wir die Dienstleistungen der bestehenden Klienten analysieren und bestimmte Dienstleistungen entsprechen zurückfahren werden. Es gibt ein Fünf-Punkte-Kriteriensystem, so wird beispielsweise der Hauswirtschaftseinsatz eingestellt oder wir schauen, ob uns im näheren Umfeld jemand unter die Arme greifen kann. Ziel ist es, die Klienten mit Priorität Nummer eins stets pflegen zu können, mit der gewohnten Qualität.

Wie fühlen Sie sich zurzeit als Geschäftsführerin der Spitex?

Ich fühle mich sehr sicher und auch getragen von so vielen verschiedenen Personen. Da wären die Mitarbeitenden, die Basis der Spitex. Sie machen auch schon ohne Corona-Pandemie einen anspruchsvollen Job. Zudem gibt es viele unter ihnen, die sich nebenbei noch um die eigenen Kinder und das Homeschooling kümmern und sich zusätzlich in der Nachbarschaft um die Risikogruppen sorgen, indem sie Einkäufe erledigen. Ich fühle mich aber auch unterstützt von der Geschäftsleitung und dem Verwaltungsrat. Die Zusammenarbeit mit den Hausärzten, den Spitälern der FMI AG, den Apotheken, den Pflegeheimen in Oberhasli und Brienz und anderen Spitex-Organisationen ist ebenfalls eine starke Stütze. Der fachliche Erfahrungsaustausch ist wertvoll. Wir tauschen auch Informationen aus, wie es mit dem Schutzmaterial aussieht, ob jede Organisation genügend hat. Zuletzt ist der Spitexverband sehr aktiv und sendet uns mehrmals pro Woche Newsletter mit dem neuesten Stand der Informationen.

Die Dachorganisation der Spitex hat für das Virus Covid-19 E-Learnings produziert. In den Videos werden beispielsweise Schritt für Schritt die aktuellen Hygienemassnahmen erklärt und wie diese umgesetzt werden müssen.
Die Dachorganisation der Spitex hat für das Virus Covid-19 E-Learnings produziert. In den Videos werden beispielsweise Schritt für Schritt die aktuellen Hygienemassnahmen erklärt und wie diese umgesetzt werden müssen.
Spüren Sie Solidarität innerhalb der Gesellschaft?

Ja, das spüren wir. Eine Mitarbeiterin hat mir erzählt, sie sei mit dem Spitex-Auto durchs Dorf gefahren. Plötzlich hätten ihr zwei Leute zugewunken und die Daumen nach oben gezeigt. Diese Rückmeldungen sind schön. Sie zeigen uns, dass wir eine grosse Arbeit leisten.

Und sich auch dem Risiko einer Ansteckung aussetzen.

Genau, das ist so.

Kurzarbeit ist bei euch somit kein Thema?

Nein, im Gegenteil. (lacht)

Was haben Ihre Mitarbeitenden erzählt, leidet das Persönliche bei den Spitex-Besuchen unter den Massnahmen?

Sie haben das allesamt mit Humor umgesetzt. Zu Beginn konnten sie ja noch das Händeschütteln durch eine Fussberührung ersetzen, um sich zu begrüssen, nun geht das auch nicht mehr. Die Kommunikation leidet schon darunter, denn das Pflegepersonal kommuniziert stark über den Gesichtsausdruck. Mit einer Schutzmaske über dem Gesicht wird dies schwieriger. Wir betreuen auch psychiatrische Klienten, bei denen die Mimik des Gegenübers eine wichtige Rolle spielt, damit sie Vertrauen aufbauen können. Trotzdem sind unsere Mitarbeitenden für viele Klienten eine wichtige Bezugsperson. Für manche sind sie der einzige persönliche Kontakt, besonders jetzt während der Corona-Pandemie. Die Lebensqualität leidet darunter, wenn das Soziale wegfällt.

Die Kommunikation leidet schon darunter, denn das Pflegepersonal kommuniziert stark über den Gesichtsausdruck. Mit einer Schutzmaske über dem Gesicht wird dies schwieriger

Corinne Banholzer Geschäftsführerin der Spitex Oberhasli Oberer Brienzersee

Welche Rolle nimmt die Spitex in der heutigen Situation wahr?

Wir sind im Gesundheitswesen ein wichtiger Player, weil wir den Spitälern den Rücken freihalten können. Wir wissen alle nicht, was auf uns zukommt, wir sind aber vorbereitet auf eine Pflege zu Hause, auch trotz dem Covid-19. Wir leisten eine wichtigen medizinische Grundversorgung. Wir arbeiten auch mit dem gleichen hochwertigen Schutzmaterial wie die Spitäler.

Gibt es eine gewisse Anspannung hinsichtlich der ungewissen Zukunft?

Ja, denn diese Situation haben wir wohl alle noch nie erlebt. Wir hatten einst eine Klientin, deren Allgemeinzustand sich verschlechtert und Fieber bekommen hat. Schnell war klar: Ein Covid-19-Verdachtsfall. Wir haben alle Massnahmen umgesetzt, das Personal ist mit Schutzmantel, Maske, Handschuhen und Brille angereist, hat nach Anleitung eines Hausarztes einen Test durchgeführt und nach 24 Stunden kam die gute Nachricht, dass die Klientin nicht infiziert war. Es war ein erster Probelauf, der uns alle in unserem Tun bestärkt hat.

Was für Sorgen bereitet Ihnen die momentane Lage, wenn Sie auf Ihre Organisation blicken?

Es ist die ganze Finanzierung. Da wir eine öffentliche Spitex sind, übernehmen wir den Leistungsvertrag des Kantons Bern. Wir haben somit den Vertrag mit Versorgungspflicht, alle Klienten zu betreuen und zu pflegen, ob kurze oder lange Einsätze, egal mit welchem Hintergrund und ob es kostendeckend ist. Der Kanton hat uns aber in den letzten Jahren die finanziellen Beiträge infolge der Sparmassnahmen gekürzt. Nun müssen wir einen koordinativen, materiellen als auch personellen Mehraufwand betreiben, den wir nicht budgetiert haben. Wir von der Geschäftsleitung erhoffen uns, dass der Kanton uns für die Bewältigung der Corona-Krise die bedingten Kosten deckt und einen zusätzlichen Beitrag an uns leisten wird.