Kanton Thurgau
«Es wird eine harte Nuss»: Politiker und Branchenvertreterinnen diskutieren über Umsetzung der Pflegeinitiative

Der Berufsverband für Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) hat zur Podiumsdiskussion über die bisherige Umsetzung der Pflegeinitiative geladen. Der Thurgauer Gesundheitsdirektor Urs Martin appellierte, nicht immer nur die Schattenseiten des Berufs zu betonen.

Judith Schuck
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An einer Podiumsveranstaltung wurde über den Stand der Umsetzung der Pflegeinitiative diskutiert.

An einer Podiumsveranstaltung wurde über den Stand der Umsetzung der Pflegeinitiative diskutiert.

Judith Schuck

Vor einem Jahr nahm das Stimmvolk mit grosser Mehrheit die Pflegeinitiative an. Aus diesem Anlass lud der Schweizer Berufsverband für Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) der Fachstellen Thurgau, St.Gallen und der beiden Appenzell zu einer Podiumsdiskussion ein, um deren bisherige Umsetzung auszuwerten.

Nationalrat Christian Lohr gab einen Überblick zum Stand der Bildungsoffensive in Bundesbern, dem ersten Teil der Pflegeinitiative. Durch höhere Ausbildungslöhne soll der Berufseinstieg attraktiver werden. Lohr outete sich als einer der Mitinitianten. Das Bundeshaus habe heute ein anderes Selbstverständnis für die Pflege als noch vor zwei Jahren. Die Annahme der Initiative sei für die bürgerlichen Parteien teils ein Schock gewesen. «Jetzt geht es um eine rasche Umsetzung», so der Mitte-Nationalrat, der ausserdem Mitglied der nationalen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit ist. Er machte keinen Hehl daraus, dass die politischen Mühlen langsam mahlen, richtete sich aber deutlich an den anwesenden Thurgauer Gesundheitsdirektor Urs Martin:

«Wir können im Thurgau nicht mehr von Handlungsbedarf sprechen, sondern es besteht die Pflicht, vorwärtszumachen.»

Lohr fügte an, dass er hoffe, dass an diesem Abend noch Signale von Seiten des Kantons kämen, dass dies verstanden worden sei.

Regierungsrat überrascht mit Vernehmlassung

Mit diesem Steilpass reichte die Moderatorin und Sektionspräsidentin des Ostschweizer SBK das Wort an Regierungsrat Urs Martin weiter. Der Auftrag der Bevölkerung, sich für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege einzusetzen, sei klar. Allerdings warte der Kanton noch auf Bundesentscheide. Martin zeigte sich zuversichtlich, dass der erste Teil am kommenden Montag vom Nationalrat angenommen werde, und so der Kanton reagieren könne.

Kanton will Initiative rasch umsetzen

Das Departement für Finanzen und Soziales hat ein Konzept «Umsetzung Pflegeinitiative Kanton Thurgau» für eine strukturierte Umsetzung der Pflegeinitiative erarbeitet und dazu eine Vernehmlassung gestartet, um alle betroffenen Akteure zeitnah in die Umsetzung der Pflegeinitiative einzubeziehen. Das Vorgehenskonzept zeigt für verschiedene Handlungsfelder auf, welche Angebote bereits bestehen und welche neu geplant sind. Auch wenn die bundesrechtlichen Vorgaben noch nicht abschliessend klar sind, sollen die betroffenen Akteure bereits jetzt in einer frühen Phase einbezogen werden. So könne die kantonale Umsetzung umgehend nach Verabschiedung des Bundesrechts ohne Zeitverlust realisiert werden. Die Vernehmlassung richtet sich an zahlreiche betroffene Institutionen und Verbände und dauert bis am 25. Februar 2023. (red)

Mit seiner Aussage, dass eine Begleitgruppe am Freitag mit ihrem Vorschlag in die Vernehmlassung ginge, wie der Thurgau die Pflegeinitiative umsetzen könne, überraschte der SVP-Regierungsrat die SP-Kantonsrätin und Sektionsgeschäftsleiterin der SBK Edith Wohlfender. Davon habe sie nichts gewusst. Wohlfender sieht den ersten Teil der Initiative auf gutem Weg, im zweiten Teil ginge es aber um die Wurst. Damit sollen die Rahmenbedingungen für Pflegende verbessert werden. Sie betonte:

«Das wird eine harte Nuss.»

Hier seien auch die Betriebe gefragt, sich Gedanken zu machen und kreative Lösungen zu finden. Einige Betriebe sind bereits tätig geworden. So gibt es für Mütter immer häufiger die Möglichkeit, an fixen Tagen zu arbeiten, statt im Schichtbetrieb. Auch vierstündige Dienste während der Schulzeit der Kinder werden bereits praktiziert. Höhere Schichtzulagen sollen die anstrengenden Nachtdienste und Arbeitseinsätze an Sonn- und Feiertagen finanziell lohnender machen.

Positive Botschaften senden

Die Gemüter kochten hoch, als Urs Martin dazu aufrief, doch nicht immer nur die Schattenseiten des Berufs zu betonen. Schliesslich sei das doch ein toller Job, der mit Menschen und Empathie zu tun habe. «Wir wollen positive Botschaften senden, um aus der Trauerspirale rauszukommen.»

Dem stimmten die Anwesenden zwar weitestgehend zu. Elisabeth Rickenbach, Kantonsrätin und Berufsbildungsverantwortliche der Spitex Müllheim, sagte aus persönlicher Überzeugung:

«Wir haben den besten Job, den es auf der Welt gibt.»

Um diesen aber zufriedenstellend ausführen zu können, brauche es mehr Personal.

Austritte nach Beendingung oder noch während des Studiums werden immer häufiger. Bei den 20- bis 24-Jährigen liegt die Aussteigerquote bei 36 Prozent. Beatrice Gregus, Rektorin der Berufsschule für Pflege, bekommt von den Auszubildenden die Rückmeldung, dass sie ihren Beruf eigentlich liebten, sich aber teils überarbeitet und ausgenutzt fühlten. «Hier beisst sich die Katze in den Schwanz», findet auch sie, denn der Schlüssel zu besseren Rahmenbedingungen sei mehr Personal und damit der Nachwuchs.

«Schönreden darf man auch nicht»

Christian Lohr sah es ebenfalls als wichtig an, Wege zu finden, wie man die Attraktivität des Berufs besser zeigen könne, «aber schönreden darf man die Situation nicht». Pflegeleitung Anita Roth, die als Stimme ihrer Kolleginnen und Kollegin der Diskussion beiwohnte, wünschte sich, dass es nicht primär um den Lohn gehen sollte, sondern um das Arbeitspensum pro Kopf. Der Arbeitsaufwand pro Patient steige, da die Menschen älter und damit multimorbider würden. Diese demografisch bedingte Entwicklung geht nicht mit einer besseren personellen Lage einher. Darum ermahnte sie die Politik zur raschen Unterstützung:

«Wenn Sie 80 sind, wie möchten Sie dann behandelt werden?»

So wie es jetzt aussehe, würde sie es kritisch betrachten. An ihrem Arbeitsplatz im Kantonsspital Münsterlingen würden schon erste Schritte unternommen, Quereinsteigern den Weg in die Pflege zu erleichtern. Wichtig findet Anita Roth vor allem, dass es wieder mehr Zeit für die Auszubildenden gibt, die heute oft im regulären Betrieb eingespannt sind.